Ingolstadt
Exotik und Hexensabbat

Die Audi-Jugendchorakademie und das Orchester Les Siècles zelebrieren ein grandioses Finale der Audi-Sommerkonzerte

15.07.2019 | Stand 23.09.2023, 7:47 Uhr
Zweiter Abend beim Audi-Klassik-Open-Air im Klenzepark: Über 7000 Zuschauer sahen zu, wie François-Xavier Roth (unten links) sein Orchester Les Siècles dirigierte. Dazu sang die Audi-Jugendchorakademie. Passend zu Frankreichs Nationalfeiertag interpretierten die Musiker Werke von französischen Komponisten. Um ein authentisches Klangerlebnis zu ermöglichen, ließ Roth zur "Symphonie fantastique" von Berlioz die historischen Originalklanginstrumente auswechseln. So kam bei einem Orchestermusiker auch ein "Serpent" (Bild unten) zum Einsatz. −Foto: Audi-AG

Ingolstadt (DK) Was für ein fulminanter und krönender Abschluss! Genau an Frankreichs Nationalfeiertag standen beim zweiten Open Air der Sommerkonzerte unter dem Motto "Vive la France!" großartige und jeweils auf ihre Art mitreißende Werke von französischen Komponisten auf dem Programm.

Und ebenso großartig war die geballte Bravour, mit der sie zum Erklingen kamen. Die Vorfreude darauf lockte über 7000 Besucher in den Klenzepark. Da hatte sogar das Wetter ein Einsehen und meinte es mit passend romantischem Abendrot, stimmungsvollen Wolken und etwas wärmeren Temperaturen besser als zum Freilicht-Event am Abend zuvor.

Welch ein unschätzbarer Ausnahmeklangkörper das Orchester Les Siècles ist, offenbarte sich sofort bei den facettenreichen Suiten aus Bizets "Carmen": Die glutvolle Intensität, mit der die Musiker in perfekter Balance zwischen reicher Klangdichte und strahlender Transparenz agierten, war schlichtweg atemberaubend - sowohl in der zündenden Ouvertüre mit ihrem bedrohlich bebenden Schicksalsmotiv als auch in den tänzerisch knisternden bis furios tobenden Zwischenspielen. So lange, bis Dirigent François-Xavier Roth während des Zigeunertanzes die Crescendo-Spirale bis zur gigantischen Explosion trieb.

Eine ebenbürtig elektrisierende Verve legte die Audi-Jugendchorakademie an den Tag. Im anheizenden Chormarsch der Oper begeisterte sie nicht nur durch ihre gewohnt frische Leuchtkraft und artikulatorische Stärke, sondern ebenso durch ihre phänomenale, prägnante und präzise Stimmpräsenz, die sie in Vollendung auch beim exotisch-orientalischen Auszug aus Léo Delibes' Oper "Lakmé" entfaltete. Nach den von Les Siècles meisterhaft dargebotenen, routierend kreisenden, flatterhaften oder melancholischen Tanzszenen fächerten beide Ensembles gemeinsam die sinnlich schillernde Klangfarbenvielfalt des Philisterchors aus "Samson et Dalila" von Camille Saint-Saëns prachtvoll auf. Noch kaum verklungen, entlud das einzigartige Originalklang-Orchester die aufgestaute Spannung mit der ihm eigenen schwindelerregenden Rasanz schier orgiastisch im "Bacchanale".

Wie sehr die Jugendchorakademie und Les Siècles auch die sehnsuchtsvollen, träumerischen und leisen Stimmungen beherrschen, zeigten sie in Jaques Offenbachs berühmter "Barcarole". Fast formte François-Xavier Roth am Pult die magischen Töne bereits vorab mit den Händen, so dass seine Musiker und Sänger quasi gar nicht anders konnten, als sie aufzunehmen und widerzuspiegeln. In die Pause verabschiedeten sich alle in furios überschwänglicher Ekstase mit Offenbachs Nummer-1-Hit, dem ausgelassenen Cancan. Freudestrahlend schwenkte dazu der Chor Tücher in den französischen Nationalfarben, um sie jauchzend in die Luft zu werfen. Nun kannte der Jubel kein Halten mehr: Der gesamte Park erhob sich zu Standing Ovations und feierte die Künstler bei ihrer ungezügelten Wiederholung des Galopps frenetisch.

Herzlich dankte die Geigerin Lisa Batiashvili, die erstmals die künstlerische Leitung der Sommerkonzerte übernommen hatte, den Mitwirkenden für ihren gloriosen Auftritt wie auch den Zuhörern für ihr Kommen. Erfüllt blickte sie zurück auf ein getreu seinem Motto wahrhaft "fantastisches" und erfolgreiches Festival - und verlieh ihrer Vorfreude auf das kommende Jahr Ausdruck, ehe Antonia Goldhammer von BR-Klassik wieder die fundierte und gleichzeitig auflockernde Moderation übernahm.

War das Klangbild in der ersten Konzerthälfte von überwältigender, bombastischer, üppig rauschhafter Fülle geprägt, wechselte es im zweiten Teil zu faszinierend unmittelbarer, packender, authentischer Stringenz. Denn François-Xavier Roth versteht es wie kein zweiter, die ursprünglichen Bedürfnisse und Erfordernisse einer Komposition aus ihrer Entstehungszeit zu erspüren und den Orchesterapparat flexibel danach auszurichten. Deshalb ließ er - wie er dem erstaunten Publikum anschaulich erklärte - die historischen Originalklanginstrumente zu Berlioz' Meisterwerk, der "Symphonie fantastique", entsprechend auswechseln. Das verlieh dem Werk eine frappierende Integrität, eine fast raue Schroffheit, eine bewegende dramatische Schwermut, aber auch eine überraschende Durchlässigkeit, wie man sie so wohl selten erlebt - ohne dabei jedoch das mindeste an Opulenz einzubüßen. Roth und seinem hervorragenden Klangkörper gelang eine bis ins Feinste ausgelotete Durchdringung dieses wahnhaft-fantasierenden Albtraums, in dem sich Berlioz gleichsam autobiographisch seinen Liebesschmerz von der Seele geschrieben hat.

Mit der "Symphonie fantastique" gilt Berlioz als Begründer und Wegweiser der Programmmusik. Erstmals verwendete er eine "idée fixe", also ein charakteristisches Leitmotiv, durchgehend in allen fünf Sätzen. Durch diese Anlage orientierte er sich an den fünf Akten des klassischen Dramas. Und als "musikalisches Drama" wollte er seine "Episode aus dem Leben eines Künstlers" (wie das Werk im Untertitel heißt) auch verstanden wissen. Dafür gibt die geniale Komposition mit all ihren inneren Gemütszuständen mehr als reichlich her: Les Siècles schufen Momente voll unendlicher Trostlosigkeit (wie in den "Träumereien" oder dem Hirten-Duett zwischen Englischhorn und Oboe), voll trügerisch lichter Hoffnung (etwa als Walzerthema), voll aberwitzigem Rausch, voll eskalierender Exzesse (beim "Hexensabbat"). Das "Dies irae" läuteten gespenstisch die Totenglocken ein - und zwar solistisch hereinbrechend von der Wiese vor der Bühne aus, bevor Serpent und Ophikleide (zwei Blechblasinstrumente) stilecht die geisterhaft parodierende Requiem-Melodie anstimmten und sich alles zu einer wilden Orgie aufbäumte. Berlioz in Reinkultur - sensationelles Raum-Klang-Theater.

Dem applaudierten die Besucher erneut enthusiastisch und huldigten den exzellenten Musikern zum zweiten Mal mit stehenden Ovationen. Triumphaler hätten die Sommerkonzerte 2019 wohl kaum zu Ende gehen können.

Heike Haberl