Berlin
Was ist los bei der Berliner Polizei?

Heftige Vorwürfe belasten die Sicherheitskräfte der Hauptstadt doch die Probleme liegen woanders

10.11.2017 | Stand 02.12.2020, 17:14 Uhr

Berlin (DK) Es dürfte nur einige Tage dauern, dann werden in Berlin wohl wieder Rücktritte gefordert. Wahrscheinlich trifft es Polizeipräsident Klaus Kandt, vielleicht Vize-Chefin Margarete Koppers, womöglich aber auch Innensenator Andreas Geisel, SPD. Auslöser könnte sein, dass erneut heftige Details zur umstrittenen Nachwuchspraxis der Berliner Polizei bekannt werden. Zudem könnten sich die Hardliner in der Opposition provoziert fühlen, Rücktritte zu fordern, wenn ihnen ihr Wunsch nach einem Sonderermittler zu all den Problemen in den Sicherheitsbehörden verweigert wird. Dabei ist gar nicht viel Neues passiert.

In Berlin wird um die Polizeiakademie gestritten. Der rot-rot-grüne Senat braucht nach jahrelangem Stellenstreichen dringend mehr Beamte: In der Stadt sind neue Kriminalitätsschwerpunkte entstanden, mehr Anti-Terror-Einsätze binden Kräfte, und die Aufklärungsquote sinkt. Politisch gewollt ist, dass die Truppe die Stadtgesellschaft abbildet, weshalb mehr Schüler arabischer und türkischer Herkunft als je zuvor in der Polizeiakademie sitzen.

Einige von ihnen sollen straffällig geworden sein, eklatant schlechtes Deutsch sprechen, Frauen beleidigt, Mitschüler angepöbelt haben. Vor allem aber sollen Polizeianwärter enge Kontakte zu kriminellen Clans unterhalten. Einige Männer aus diesen Großfamilien sollen zuletzt in Polizeiwachen eingebrochen sein, um Spuren an beschlagnahmten Autos zu beseitigen. Unterwandern, fragt die Opposition, arabische Mafiosi die Polizei? Hat der rot-rot-grüne Senat die Kontrolle über die Behörde verloren?

Zunächst sei darauf hingewiesen, dass es den einschlägig bekannten Großfamilien nur schwer gelingen dürfte, Spitzel in den Behörden zu platzieren. Anders als einige Polizeigewerkschafter suggerieren, sind die Clan-Männer zwar brutal und machtversessen - aber ihr Nachwuchs scheitert beim Berufseinstieg oft schon wegen sprachlicher Defizite oder fällt noch in der Ausbildung durch plumpes Vorgehen auf: Statt die Shisha-Bar zügig zu verlassen, protestierte ein Polizeischüler im September 2016 lautstark, als seine künftigen Kollegen bei einer Routinekontrolle die Papiere der anwesenden Männer überprüften. In der Lounge saßen bekannte Mitglieder eines arabischen Clans und junge Männer eines tschetschenischen Schlägertrupps.

Noch ist der Anwärter nicht von der Polizeiakademie geschmissen worden - die Verwaltungsgerichte, heißt es, legen in solchen Fällen hohe Maßstäbe an. Aber selbst wenn durchgegriffen würde, kann man kaum sagen, Innensenator Andreas Geisel (SPD) hätte die Kontrolle verloren. Sie war in den vergangenen Jahren nur unwesentlich enger - es gibt in Berlin, so scheint es derzeit, schlicht zu wenig verlässliches Personal. Und kaum jemand will sich dieser unangenehmen Herausforderung wirklich stellen.

Dabei ließe sich weder Geisel noch Kandt noch Koppers allein ein Vorwurf machen. Sie, immerhin, haben den Job ja übernommen. Vor einem Jahr haben sich SPD, Grüne und Linke bei den Koalitionsverhandlungen gestritten, weil keine Partei die Innenverwaltung leiten wollte. Das Feld, auf dem Hardliner einst öffentlichkeitswirksam auftrumpften, ist zum Dauerdesaster geworden: massenhafter Taschendiebstahl an Bahnhöfen, regelmäßig Messerstechereien und Parks, die von Dealern nach Revierkämpfen aufgeteilt wurden.

Rund 60 000 Menschen zogen 2016 nach Berlin. Es gibt mehr Großveranstaltungen, Staatsbesuche, Anti-Terror-Einsätze als beispielsweise in Bayern. Doch obwohl die Kassen Berlins vor 15 Jahren viel leerer waren als heute, beschäftigte die Polizei damals fast 18 000 Vollzugskräfte. Trotz Werbekampagne und neuen Rekruten in der Polizeiakademie sind es bis heute 1000 Beamte weniger.

Gutes Personal verlässt die Stadt oft - oder kommt gar nicht erst. Berliner Polizisten absolvieren mehr Überstunden, werden öfter angegriffen und erhalten im Schnitt rund 300 Euro weniger im Monat als die Kollegen anderswo. Also bewerben sich viele weg. Zahlreiche Beamte gehen zur ebenfalls in Berlin stationierten Bundespolizei oder fangen in Brandenburg oder Hamburg an - bessere Ausrüstung, mehr Geld, weniger Aggressionen. Das alles betrifft letztlich nicht nur die Polizei. Die Hauptstadt mag boomen, Kreative und solche, die es werden wollen, zieht es ungebrochen nach Berlin. Fachkräfte und Spitzenleute aber kommen seltener.

Unter den Wissenschaftlern in der Hauptstadt ist man zum Beispiel froh, dass Karl Max Einhäupl bereit ist, die landeseigene Charité noch bis 2020 zu leiten. Neurologe Einhäupl kam einst aus München nach Berlin und wird bald 71 Jahre alt. Nächsten Sommer sollte er nach zehn Jahren an der Spitze der größten Universitätsklinik Europas in den Ruhestand gehen. Doch der Senat findet keinen geeigneten Nachfolger.

Oder das Oberverwaltungsgericht: Zwei Jahre lang wurde ein neuer Präsident gesucht - immerhin einer der höchst dotierten Justizposten der Hauptstadt. Immer wieder, das wird inzwischen kaum noch dementiert, haben auch die Landesverbände der Parteien außerhalb der Stadt nach geeignetem Personal gesucht: Dabei kam heraus, dass kaum jemand einen Posten in der Landespolitik übernehmen möchte.

Bis der amtierende Polizeipräsident, Klaus Kandt, im Dezember 2012 nach Berlin kam, hatten erst der frühere SPD-Linke-Senat, dann die nachfolgende große Koalition fast zwei Jahre nach einem passenden Kandidaten gesucht. Das könnte bald von vorn losgehen.

Hannes Heine ist Redakteur bei der Berliner Zeitung "Tagesspiegel". Regelmäßig schreibt er über Kriminalitätsphänomene und die Herausforderungen für die Landespolitik.