„Zu
Wagner als Meterware

Zum Jubiläum erscheinen zahlreiche neue Biografien des Komponisten

30.09.2013 | Stand 02.12.2020, 23:36 Uhr

„Zu viel! Zu viel! O, dass ich nun erwachte!“ singt Tannhäuser – und jeder pflichtet ihm erschöpft bei, der versucht, sich bei den Neuerscheinungen des Wagner-Jahres einen Überblick zu verschaffen. Es scheint alles gesagt und erforscht – aber vielleicht ja noch nicht von jedem? Jeder Forscher muss nun schnell auf das Jubiläums-Züglein aufspringen, das schon sein Signal zur Abfahrt gen Walhall geblasen hat.

Da werfen sie sich stolz in die Brust ob vieler beschriebener Seiten – und darben dennoch, denn viel Neues gibt es nicht zu erforschen.

Die große Werkausgabe ist weit fortgeschritten, der Gesamtausgabe der Briefe fehlen nur noch fünf Bände. Das Archiv im Haus Wahnfried steht ohne versiegelte Giftschränke offen. Gerüchten nach gibt es einen geheimen Ableger in München, den die Wagner-Erben beiseite gebracht haben, um brisantes Material aus dem Dritten Reich zu verbergen – aber nach diesem Gral der Familiengeschichte sehnt sich die Forschung schon jahrelang vergeblich. Nichts tut sich. „Schwüles Gedünst schwebt in der Luft.“ So werden ferne Gefilde beackert – man schreibt übereinander, über die „Wagnerianer“ also, beleuchtet die Aufführungsgeschichte. Bücher mit dem Untertitel „Richard Wagner und . . .“ – das geht noch. Die Bibliographie zur Wagner-Literatur gehört zu den Herkulesaufgaben der Bibliothekswissenschaften.

Zum 200. Geburtstag musste frische Ware her – das verlangt der Geschäftssinn der Verleger. Tatsächlich nimmt man einige der neuen Bände gerne in die Hand. Der Londoner Wagner-Spezialist Barry Millington legt unter „Der Magier von Bayreuth“ eine umfassende und mit Register erschlossene Darstellung vor. Sie besticht durch schönes Bildmaterial und ist ein Handbuch für Neueinsteiger. Man könnte aber auf jeder Seite erhitzt diskutieren! Ist es wirklich Mäzenatentum, wenn Wagner seine Freunde hemmungslos anpumpt und ausnutzt, ist es nicht einfach kriminell, unter Hinterlassung von Schulden das Weite zu suchen oder Rechte mehrfach zu verkaufen? Auch die Bayreuther Festspielgeschichte nach dem Tod Richards beleuchtet Millingtons Buch, ursprünglich für den englischen Markt geschrieben, parteiisch und unvollständig.

Wer weniger auf farbige Bilder und mundgerechte Leseportionen schielt, ist besser beim Germanistikprofessor Dieter Borchmeyer aufgehoben, der ein weiteres Wagner-Buch herausgibt – mit stupender, nie endender Begeisterung für sein Thema. Es heißt „Richard Wagner. Werk – Leben – Zeit“. Als intelligenten Theaterbegleiter kann man auch den Journalisten Axel Brüggemann empfehlen, dessen Bändchen „Genie und Wahn“ nicht vor Neuigkeiten strotzt, aber gut lesbar und schlau gegliedert ist. Er hält sich nicht sklavisch an die Chronologie und wagt sich auch mal an die Beschreibung eines Akkords – aber alles kommt vor, was man von einer Lebensbeschreibung erwartet, und die Exkurse „Ortsbesuch“ oder „Opernbesuch“ kann man schnell in einer Festspielpause lesen.

Richard Wagner als deutsches Phänomen hat sich der Historiker Sven Oliver Müller vorgenommen. Sein Buch beginnt mit Wagners Tod und beleuchtet die Wirkung der Person und ihrer Werke in den verschiedenen Epochen neuerer deutscher Geschichte. Besonders was die junge Bundesrepublik und die DDR angeht, ist das aufschlussreich. Denn Richard Wagner ist – wie Goethe oder Luther – eben ein urdeutsches Thema. Als solches ist es wegen des fortwährenden Erfolgs der Werke nie gänzlich in den Hintergrund getreten und bewahrt sich in scheinbar ewiger Jugend seine immense Sprengkraft. Ad multos annos, Richard!

Barry Millington: Der Magier von Bayreuth. Richard Wagner, sein Werk und seine Welt, Primus Verlag, 320 Seiten, 29,90 Euro.

Dieter Borchmeyer: Richard Wagner. Werk – Leben – Zeit, Reclam, 408 Seiten, 22,95 Euro.

Axel Brüggemann: Genie und Wahnsinn. Die Lebensgeschichte des Richard Wagner, Beltz & Gelberg, 236 Seiten, 16,95 Euro.

Sven Oliver Müller: Richard Wagner und die Deutschen. Eine Geschichte von Hass und Hingabe, C. H. Beck, 22,95 Euro.