Ingolstadt
Von der Sorge, nicht ans Ziel zu kommen

Die Reichweitenangst

09.08.2019 | Stand 23.09.2023, 8:08 Uhr
Komme ich mit einem Elektroauto ohne Probleme so weit wie ich möchte? Eine Frage, die sich viele potenzielle Käufer stellen. Dabei gilt es zu bedenken, dass die meisten Menschen im Schnitt nur eine tägliche Strecke von 45 Kilometer zurücklegen. −Foto: Woitas/dpa

Immer mehr Menschen liebäugeln damit, sich ein Elektroauto anzuschaffen - und doch können sich viele letztendlich nicht dazu durchringen. Grund ist häufig ein psychologischer Effekt, den Studenten der Technischen Hochschule Ingolstadt untersucht haben: die Reichweitenangst.

Ingolstadt (DK) Zuverlässig muss es sein: Das ist wohl die oberste Prämisse derer, die sich ein neues Auto zulegen wollen. Denn wer viel Geld für einen neuen Wagen ausgibt, möchte nicht plötzlich irgendwo im Nirgendwo stehen. Aber genau das ist die Befürchtung vieler, wenn sie an Elektrofahrzeuge denken - und das schreckt sie vom Kauf ab. Ein psychologischer Effekt. "Reichweitenangst ist die Angst, mit seinem Auto nicht am Ziel anzukommen", erklärt Maschinenbau-Student Moritz Huber. "Zum einen, weil der Strom auf der Strecke, die man fahren möchte, nicht ausreicht, und zum anderen, weil man während der Fahrt keine Ladesäulen findet, falls der Akku wirklich mal leer ist."

Ob die Reichweitenangst wirklich gerechtfertigt ist und wie sie verringert werden kann, damit haben sich vergangenes Sommersemester zehn Studenten der Technischen Hochschule Ingolstadt (THI) beschäftigt, und zwar studiengangsübergreifend: von Wirtschaftsingenieurwesen über Fahrzeugtechnik bis hin zu Erneuerbare Energien. Jeder der Studenten bearbeitete - betreut von den Dozenten Martin Bornschlegl und Dennis Böhmländer von der Fakultät Maschinenbau - ein eigenes Themenfeld. Zudem wurden rund 100 Menschen online befragt; der Fragebogen richtete sich an keine bestimmte Zielgruppe, Voraussetzung war lediglich der Besitz des Führerscheins.

"Bei Reichweitenangst geht es vor allem auch darum, dass das Fahrzeug die Distanz ja eigentlich schaffen würde", geht Fahrzeugtechnik-Student Josef Harrer ins Detail. "Aber der Mensch empfindet trotzdem großen Stress, weil ihm das Auto Informationen gibt, mit denen er sich unwohl fühlt." Da die Anzeigen im Fahrzeug nicht, wie man das bei einem anderen Auto gewohnt sei, langsam zurückgehen, sondern teilweise stark abfallen, wenn etwa die Klimaanlage eingeschaltet wird, "hat der Mensch während der Fahrt ständig Sorge, dass das Auto liegenbleibt", berichtet Huber.

Harrer nennt ein Beispiel: "Wenn ein Elektroauto eine Reichweite von 350 Kilometer hat und das Ziel ist 350 Kilometer weit weg, starrt der Fahrer die ganze Zeit auf seine Reichweitenanzeige. Das heißt, er kommt zwar an, hatte aber keine angenehme Fahrt. Dann sagt er hinterher natürlich: ,Nee, ich mag kein Elektroauto mehr fahren, da muss ich ja immer Angst haben, dass ich nicht ankomme.'" Obwohl das faktisch nicht der Fall sei. Hinzu komme: Viele, die Reichweitenangst verspüren, sind noch nie in ihrem Leben ein E-Auto gefahren", sagt Dozent Bornschlegl. "Das Vorurteil ist: E-Autos sind schlecht, weil ich damit nicht an mein Ziel komme."

Er nennt drei Strategien, mit denen sich Reichweitenangst bei den Menschen reduzieren lassen würde, weil sie mehr Sicherheit schafften: Erstens ist das Aufklärung. Die Menschen müssten wissen, dass Reichweitenängste nicht unbedingt gerechtfertigt seien und es sich dabei oft nur um Vorurteile handele. Zweitens sind bestimmte Dienstleistungen notwendig. "In den Urlaub fährt man ja nur wenige Tage im Jahr", gibt Bornschlegl zu bedenken. "Man könnte zum Beispiel ein Konzept anbieten, mit dem der Kunde sein Elektroauto für diese paar Tage unkompliziert gegen ein Auto mit Verbrennungsmotor eintauschen kann." Der dritte Aspekt gegen Reichweitenangst ist das Krisenmanagement selbst, also das Aufzeigen von Möglichkeiten, wenn man tatsächlich mal liegengeblieben ist. "Was kann der ADAC tun: Schnell aufladen oder abschleppen? Muss es insgesamt mehr zentrale Parkplätze geben, auf denen das E-Auto aufgeladen werden kann?", nennt Bornschlegl Fragen, die hierbei geklärt werden müssten.

Ob Reichweitenangst aktuell berechtigt ist oder nicht, lässt sich den Studenten Harrer und Huber zufolge nicht eindeutig mit Ja oder Nein beantworten. "Ja sagen kann man für jemanden, der viele lange Strecken fährt und dabei vielleicht sogar noch einen terminlichen Gedanken im Kopf hat, was ja fast immer der Fall ist ", sagt Harrer. "Bei Pendlern oder Leuten, die berufsbedingt viel mit dem Auto unterwegs sind, ist es daher klar, dass die die Krise kriegen, wenn sie an Elektroautos denken. Und das ist auch berechtigt, denn dafür ist das Auto aktuell nicht geeignet."

Huber gibt allerdings zu Bedenken, dass der Großteil der Menschen nur eine tägliche Arbeitsstrecke von etwa 10 Kilometern im Schnitt habe; die rein beruflichen Fahrten seien also schon mal relativ gering. Rechnet man nun zum Beispiel noch die Wege zum Bäcker, zum Lebenspartner oder Fahrdienste für die Kinder hinzu, "fährt man im Schnitt um die 45 Kilometer am Tag", weiß Huber. "Das bedeutet, die Reichweitenangst ist bei den wenigsten wirklich berechtigt, weil die meisten einfach keine so langen Strecken im täglichen Leben zurücklegen."

Ein Elektroauto schafft den Studenten zufolge derzeit zwischen 230 und, wie etwa der Hersteller Tesla verspricht, um die 500/600 Kilometer am Stück. Aber es kommt natürlich, wie bei jedem anderen Auto auch, auf die Fahrweise an: Wer auf der Autobahn voll aufs Gaspedal drückt, dessen Batterie ist schneller leer, als bei jemandem, der mit 100 km/h gemütlich die Landstraße entlangfährt.

Dennoch ist die Reichweite eines Elektroautos noch von anderen Faktoren abhängig, etwa der Außentemperatur. "Wenn man zum Beispiel an den letzten harten Winter in Chicago zurückdenkt, wo alle Autos stehengeblieben sind", erinnert Dozent Böhmländer. "Bei minus 30 Grad kommt man mit einem Elektroauto vielleicht nur 50 Kilometer weit. Das muss man schon auf dem Schirm haben."

Die zwei wesentlichen Fragen, die man sich stellen sollte, wenn man derzeit über den Kauf eines E-Autos nachdenkt, sind ihm zufolge zum einen: Was will ich mit dem Fahrzeug machen? Und zum anderen: Wo wohne ich? "Wenn ich in einer strukturell schwächeren Region oder auf dem Land lebe, wo ich kaum Ladesäulen habe, ist die Entscheidung eine andere, als wenn ich in einer größeren Stadt mit vielen Ladesäulen wohne und ich vielleicht selbst in meiner Tiefgarage eine Lademöglichkeit habe."

Die Zukunftsträchtigkeit der E-Mobilität zweifeln die THI-Dozenten und ihre Studenten indes nicht an. "Aber Innovationen brauchen Zeit", fasst es Böhmländer zusammen. "Und man muss ihnen diese Zeit geben, um sich zu entwickeln."
 

Silvia Obster