Ingolstadt
Vom Graben zwischen den Geschlechtern

Beeindruckende musikalisch-literarische Matinee zu Marieluise Fleißer mit Anna Maria Sturm

27.11.2016 | Stand 02.12.2020, 18:59 Uhr

Aktuell, authentisch, stimmig präsentierten Schauspielerin Anna Maria Sturm und Pianist Uri Gincel Texte der Ingolstädter Dichterin Marieluise Fleißer im Ingolstädter Altstadttheater. - Foto: Kober

Ingolstadt (DK) Ist es tatsächlich ein Text aus den 30er-Jahren, den Schauspielerin Anna Maria Sturm (bekannt aus Marcus H. Rosenmüllers Trilogie "Beste Zeit", "Beste Gegend", "Beste Chance" und "Polizeiruf 110" und "Fegefeuer in Ingolstadt" an den Kammerspielen München) da am Sonntagmorgen im Altstadttheater liest? So frisch, so aktuell, so lebendig erscheinen in ihrem Vortrag die ausgewählten Passagen aus Marieluise Fleißers Roman "Eine Zierde für den Verein" und der Erzählung "Hölderlin in der Kneipe".

Da ergänzen sich Vortragskunst und die eigenwillige, raue und plastisch-genaue Sprache der Fleißer, wenn Anna Maria Sturm von Gustl Gillich, dem erfolgreichen Schwimmer, dem Retter, der schon 16 Menschen den Wassern entrissen hat, liest. Von seinem männlichen Ernst, mit dem er tadelt, dass die Soldaten einen der Ihren haben ertrinken lassen, anstatt zu ihm in die Tiefe zu tauchen, ihn vom Anker zu befreien.

Und ebenso frisch, als sei man ihr eben erst am Donau-Ufer, am Brückenkopf oder sonstwo in Ingolstadt begegnet, ist Frieda Geier in der "schwarzen Lederjacke mit den kurz geschnittenen Haaren", dieses "eigensinnige Fräulein". In den Augen Gustls ist sie die Verkörperung jenes gefährlichen "Stolzes der Frauen", bei dem er die Welt in Gefahr wähnt, wenn sich diese "radikale Wissbegierde", dieser "Eigensinn" ausbreitet.

Das spricht Anna Maria Sturm ruhig, verzichtet dabei auf künstliche Dramatik, lässt dem Fleißer-Duktus Zeit und Raum, zu wirken. So entstehen greifbare Bilder des Romans, in dem die Fleißer mit der Figur des Linchens, der Schwester der Mehlreisenden Frieda Geier, ihre eigenen Erfahrungen in der Mädchenschule der Englischen Fräulein in Regensburg beschreibt: die Enge, die Vorschriften, wie sich die jungen Frauen zu kleiden haben, dass "die 17 Mädchen im Schlafsaal der Gruppe 3" einander nicht einmal die Hände zum Gutenacht-Gruß reichen dürfen. Und die zahlreichen Ver- und Gebote beim Lernen, beim Ausflug, die erst "die seltsamen Süchte" hervorbringen.

Die Auswahl der Texte - das Gedicht "Diotima" des von der Fleißer bewunderten Hölderlin und die wenig bekannte Erzählung "Hölderlin in der Kneipe" von 1932 gehörten dazu - zeugte von Marieluises Fleißers Sicht auf das Verhältnis der Geschlechter, der Trennung in eine (dominante) Männer- und eine Frauenwelt ("Zwei Welten - der Graben lässt sich nicht überspringen"). Vom "Kampf der Geschlechter" sprach Kurt Finkenzeller, Vorsitzender der Marieluise-Fleißer-Gesellschaft, die im Anschluss an ihre Jahrestagung - in diesem Jahr blickt die Gesellschaft auf ihr 20-jähriges Bestehen - zu dieser Matinee eingeladen hatte. Tatsächlich waren die Auszüge aus Roman und Erzählung auf Gewalt fokussiert. Gustls Verbrechen an Linchen und die Ohrfeige des Raimund, mit der er die Wirtin die Kellertreppe hinunterstürzen lässt, nachdem er sich um die Heirat in ein gemachtes Nest betrogen fühlt.

Stimmig dazu die Musik: Uri Gincel, Pianist aus Sturms Jazzband, spielte aus dem American Jazzbook ("Polka Dots And Moonbeams"), Anna Maria Sturm sang (das Brahms-Lied "Nicht mehr zu dir zu gehen") wunderbar warm getönt und die Zugabe, Friedrich Hollaenders "Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre", weniger dramatisch als einst Marlene Dietrich. Lang anhaltender Applaus vom tief beeindruckten Publikum.