Ingolstadt
Zwischen Verführung und Protest

Uraufführung am Stadttheater Ingolstadt: Volker Schmidts fragmentarisches Stück "Djihad" ist ein spannender Beitrag zur aktuellen Debatte

27.11.2016 | Stand 02.12.2020, 18:59 Uhr

Frust, Identitätskrise, Lust auf Rebellion: Musa (Marc Schöttner) schließt sich den Salafisten an. In Raqqa, der Hochburg der Terrormiliz IS in Syrien, wird er sterben. Volker Schmidts "Djihad" dreht sich um die Frage, warum Jugendliche in den "Heiligen Krieg" ziehen. - Foto: Olah

Ingolstadt (DK) "Es geht um Leben und Tod", sagt der Anrufer. Und dann: "Ich melde mich wieder." Er legt auf. Und lässt Laurenz zurück mit einem schlechten Gefühl, einer Mischung aus Ärger, Verantwortung und Angst. Was soll er tun? Was erwartet sein alter Freund Musa von ihm? Soll er die Polizei einschalten? Es geht um Helena. Zu Schulzeiten hatte er mal was mit ihr - bis Musa kam. Der war schwer zu haben, das hatte Helena gereizt. Dieses Mädchen aus reichem Elternhaus, das schockieren wollte, mit roten Hotpants rumlief, das Gymnasium schmiss, klaute. "Die sind alle angepasst, das langweilt mich" - so tickte sie. Dann traf sie Musa. Der in die Moschee ging, fünfmal am Tag betete, sich Gedanken machte über die Welt. "Ich will nicht Teil des Systems sein" sagte. Und auch, dass er sie liebe. Und irgendwann kaufte sie sich ein One-Way-Ticket nach Syrien.

"Djihad" hat Volker Schmidt sein Stück (ab 14 Jahren) genannt, das am Samstagabend im Kleinen Haus seine viel beklatschte Uraufführung erlebte. Im Auftrag des Stadttheaters Ingolstadt hatte er sich mit der Frage beschäftigt, warum junge Leute aus Deutschland in den "Heiligen Krieg" ziehen. Was ist am Terror attraktiv? Von wem lassen sie sich verführen?

Schmidt präsentiert mit Helena und Musa zwei radikale Beispiele und wirft Schlaglichter auf ihr Umfeld. "Wir alle sind Teil derselben Geschichte", heißt es mehrfach im Stück. Schmidt erzählt "Fragmente" dieser Geschichte. Und macht auf der Bühne daraus ein Spiel. Im Zentrum: eine quadratische Spielfläche - leer oder mit einem großen Balance-Kreisel, der vielfältig genutzt wird, zum Beispiel, um Laurenz' vergebliches Bemühen zu verdeutlichen, seinen Weg zu gehen, es sich dabei selbst und allen anderen recht zu machen. An beiden Seiten: Stangen mit Kostümen und Requisiten. Die Schauspieler kleiden sich vor dem Publikum um. Es gibt Gymnastikbälle, die mal als Sitzgelegenheit dienen, mal ins Spiel integriert werden, mal Projektionsfläche sind. Hier wird man leicht zum Spielball unterschiedlicher Mächte. Ein Teil der Schauspieler sitzt zunächst im Zuschauerraum - betritt von dort die Bühne. Will heißen: Auch wir sind Teil derselben Geschichte. Und: Wir tragen Verantwortung.

 Laurenz - das ist ein Jedermann. Einer von uns. Nine-to-five-Job in der Autobranche, verheiratet, ein Kind ist unterwegs. Domestizierte Jugend. Nebulöse Zukunftsvision. Apolitisch. Als er den Anruf von Musa kriegt, bekommt er Angst, wird zunehmend aggressiv. Er blockt ab, will nichts wissen, will sich nicht verhalten müssen. Aber Musas Anruf beschäftigt ihn. Er recherchiert, will verstehen, sucht Beistand.

Autor Schmidt erzählt aus verschiedenen Perspektiven und auf mehreren (Kommunikations-)Ebenen. Lässt Helena und Musa zu Wort kommen: "Sie lassen uns verrecken im Dreck der Vorstadt, bauen uns grausame Shoppingcenter, stapeln unsere Leben zwischen Betonplatten, und dann verlangen sie, dass wir das Beste aus uns machen." Erzählt von unklaren Identitäten. Frust. Orientierungslosigkeit. Rebellion. Propagandamaschinerien. Gewalt. Gott. Entweder oder. Er lässt Helenas Mutter auftreten. Laurenz. Sheikh Djalal. Führt vor, was sie antreibt, was sie fürchten, woran sie glauben, zweifeln und verzweifeln. Stück für Stück verbinden sich die einzelnen Fäden zu einer konfliktgeladenen Geschichte, die viel Stoff zum Nachdenken bietet. Im Publikum herrscht eine ungewöhnlich konzentrierte Stille - über 95 Minuten lang.

Das liegt zum einen an dem zwingenden Konzept von Regisseur Schmidt und seinem Team (Ausstattung: Thea Hoffmann-Axthelm, Musik: Jacob Suske, Video: Stefano Di Buduo) und seinen ausdrucksstarken wie poetischen Bildern, zum anderen an der Intensität seiner Schauspieler, die zum Teil mit subtilen Rollenfindungen gegen Klischeebilder ankämpfen und allesamt zu überzeugen vermögen. Béla Milan Uhrlau glänzt einmal mehr als überforderter Laurenz. Marc Schöttner gibt Musa, den wütenden, liebenden, argwöhnenden Salafisten. Sandra Schreiber beeindruckt als wohlstandsverwahrloste Helena, die sich in eine radikale religiöse Utopie flüchtet. Ulrich Kielhorn wägt als Imam nicht nur die Worte des Korans, sondern auch die Schillers. Annette Wunsch ist Helenas ratlos-resignierte Mutter. Und Mira Fajfer brilliert in einer - höchst differenzierten - Doppelrolle als Lea und Meryem.

Warum ziehen deutsche Jugendliche in den Djihad, lautete die Ausgangsfrage des Stücks. Natürlich gibt es darauf keine Antwort - oder vielleicht auch sehr viele. Volker Schmidt liefert mit seiner Produktion jedenfalls einen klugen Beitrag zur aktuellen Debatte. Weiterdenken erwünscht!

Weitere Termine heute und morgen, am 1., 2., 5. und 8. Dezember. Kartentelefon (08 41) 30 54 72 00.