Vom "Buch der 94 Narren" zum Bestseller mit Milliardenumsatz

10.07.2006 | Stand 03.12.2020, 7:43 Uhr

Ingolstadt/Berlin (DK) Es war das Who is Who im Berlin des 19. Jahrhunderts, und nur wer von Rang und Namen war, durfte drinstehen: Das erste deutsche Telefonbuch für Berlin, das am 14. Juli 1881 erschien, war eitel, was die Auswahl seiner eingetragenen Personen betraf. Fabrikanten und Verleger, Kaufleute und Bankiers, Architekten und Rechtsanwälte waren im "Verzeichniss der bei der Fernsprecheinrichtung Betheiligten" von 1881 eingetragen.

Auch ein gewisser Herr Geheimer Baurat Dipl. Ing. Emil Rathenau ist auf dieser ersten amtlichen Rufnummernliste zu finden. Er ist ein angesehener und wohlhabender Mann, der später als Gründer des Weltkonzerns AEG in die Geschichte eingehen wird. Doch im Berlin des Jahres 1881 muss er sich als Narr verspotten lassen, weil er angeblich auf einen teuren und dubiosen Schwindel aus Amerika hereingefallen war. Denn es ist g erade mal fünf Jahre her , dass Alexander Graham Bell das Telefon erfunden hatte. "Für die einfachen Bürger ging diese Technik nicht mit rechten Dingen zu. Deshalb war das Telefon für sie Teufelswerkzeug", erzählt Siegfried Warth vom Deutschen Telefon Museum im rheinland-pfälzischen Morbach.

Am 14. Juni 1880, also knapp ein Jahr vor Veröffentlichung des ersten Telefonbuchs, erging ein Aufruf an die Berliner Geschäftswelt, "um festzustellen, ob für Berlin ein Bedürfnis vorhanden ist" zur Einrichtung des Fernsprechers. Sechs Monate nach diesem Aufruf hatten sich erst 94 Teilnehmer gemeldet. Deshalb soll das Berliner Fernsprechbuch anfangs auch "Buch der 94 Narren" genannt worden sein. Für 400 Anschlüsse ist das erste Netz ausgelegt, doch es gibt nur 187 – von A wie Abgeordnetenhaus, Rufnummer 95, bis Z wie Ziesch & Co., einer Tapisserie-Manufaktur, Rufnummer 72. Emil Rathenau ist unter der 396 zu erreichen.

Das 28 Seiten dicke Verzeichnis ist im ersten Teil alphabetisch, im zweiten Teil numerisch sortiert. Auf vier Spalten sind die Telefonnummer, der Name oder die Firma, der Beruf oder der Geschäftszweig sowie die Straße aufgeteilt. Sind Nummern nicht belegt, gibt es leere Zeilen, damit diese später handschriftlich angetragen werden können. Auch zwischen den einzelnen Buchstabenabschnitten gibt es genügend Platz, um "Nachzügler" eintragen zu können.

"Hier Amt, was beliebt?"

Weil der Umgang mit dem jungen Telefon den Benutzern noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen war, bot das Verzeichnis auch eine praktische Gebrauchsanleitung: "Zu einer guten Verständigung ist kein sehr lautes, wohl aber ein deutliches und nicht zu langsames Sprechen erforderlich." Schritt für Schritt wurde schließlich erklärt, was zu tun ist, wenn "Theilnehmer A mit Theilnehmer B" zu sprechen wünscht und die Damen von der Vermittlung sich melden: "Hier Amt, was beliebt?"

Dass es sich bei den vermeintlichen Narren um vorausschauende und kluge Köpfe gehandelt hat, wird nur wenige Jahre später klar: Bereits sieben Jahre nach Erscheinen des ersten Telefonbuchs gibt es in Berlin 34 500 Anschlüsse und damit mehr als in jeder Stadt der Vereinigten Staaten , wie die Historikerin Gerhild Komander in dem Buch "Berlins erstes Telefonbuch" schreibt. Und der Boom hält an: 1900 sind es in Berlin bereits 130 000, bis 1940 steigt die Zahl auf 663 665 Anschlüsse.

In Bayern gibt es das erste Telefonnetz und damit das erste Telefonbuch 1883 in München. 145 Einträge sind im "Verzeichniss der Sprechstellen" aufgeführt, darunter so bekannte Namen wie die Bierbrauerei Georg Pschorr oder das Hotel Bayerischer Hof. In diesem Telefonbuch finden sich auch die Anfänge der heutigen Gelben Seiten, da neben einer alphabetischen Sortierung auch eine Auflistung nach Berufsständen üblich war. Es sind überwiegend Banken und Bankiers, Bierbrauereien und Buchdruckereien, die im Münchner Telefonbuch von 1883 stehen. Privatpersonen sucht man vergeblich.

34 Millionen Einträge

Inzwischen hat sich das natürlich geändert. Aus knapp 200 Einträgen sind 34 Millionen geworden. Das Berliner Telefonbuch ist heute zwar mit 1,2 Millionen Einträgen und insgesamt 2672 Seiten in zwei Bänden das dickste deutsche Telefonbuch, aber längst nicht mehr das einzige. 125 Einzelausgaben gibt DeTeMedien zusammen mit 38 Verlegern aus ganz Deutschland heraus. Die Auflage liegt bundesweit bei 32 Millionen Exemplaren – da kommen hierzulande nicht mal Harry Potter oder Dan Browns "Sakrileg" ran. Nimmt man das Telefonbuch, die Gelben Seiten und Das Örtliche zusammen, kommen jährlich 1550 Ausgaben mit einer Gesamtauflage von 114 Millionen Exemplaren zusammen.

Trotz zunehmender Digitalisierung ist das gedruckte Verzeichnis immer noch beliebter als die elektronische Version: Acht von zehn Deutschen nutzen es, hat das Marktforschungsinstitut Ipsos herausgefunden, während nur 21 Prozent zu Online-Verzeichnissen greifen. Das liegt möglicherweise auch daran, dass die dicken Wälzer kostenlos sind, obwohl die Herstellungskosten bei rund sechs Euro liegen. "Das gesamte Buch ist werbefinanziert", erläutert Klaus Mapara, Beiratsvorsitzender der Telefonbuch Servicegesellschaft in Köln. Und das rechnet sich offenbar: Der Gesamtmarkt für Verzeichnisdienste hat nach Angaben von Oliver Neuerbourg, Geschäftsführer der DeTeMedien, inzwischen ein Volumen von rund 1,2 Milliarden Euro im Jahr erreicht. 30 000 Arbeitsplätze hängen von diesem Geschäft ab.

Das kleine Rufnummernverzeichnis von einst hat sich gemausert: vom belächelten Blättchen zum Millionen-Bestseller. In den vergangenen 125 Jahren hat sich viel verändert – Aufbau, Finanzierung, Vertrieb und vor allem das Image. "Damals war es das Who is Who der Reichen und Berühmten", sagte der frühere Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) im Rahmen der Jubiläumsfeier. "Heute gilt es als schick, nicht in der Liste aufzu-tauchen."