Vollborn: „Die Sehnsucht ist riesengroß“

Pokalsieger mit Leverkusen im Interview

03.07.2020 | Stand 23.09.2023, 12:40 Uhr
Mit Rüdiger Vollborn (Mitte) gewann Bundesligist Bayer Leverkusen das DFB-Pokalfinale 1993 gegen die Amateure von Hertha BSC mit 1:0 (0:0). −Foto: Altwein/dpa

Nicht Rudi Völler, sondern Rüdiger „Rudi“ Vollborn ist der erfolgreichste Rudi bei Bayer Leverkusen: Als Torwart gewann er mit der Werkself 1988 den Uefa-Cup und 1993 den DFB-Pokal. Der 57-Jährige hofft, dass 27 Jahre nach dem Triumph von Berlin am Samstag der Leverkusener Vize-Fluch gegen den FC Bayern endet.

Herr Vollborn, Sie sind der einzige Leverkusener, der die beiden Titel der Vereinsgeschichte als Profi aktiv miterlebt hat. Was bedeutet Ihnen diese Tatsache?

Rüdiger Vollborn: Das ist für mich nichts Weltbewegendes. Ich würde den Pokalsieg  sofort eintauschen für einen Meistertitel. Ich wäre froh, wenn das irgendwann kein Thema mehr wäre, weil Bayer dann  den einen oder anderen Titel nachgelegt hätte.

Der Pokalsieg vor 27 Jahren war der bislang letzte Titel für Bayer. Der Weg ins Finale führte damals über den ASV Bergedorf, den 1. FC Kaiserslautern, VfR Heilbronn, Hertha BSC, Carl Zeiss Jena und Eintracht Frankfurt. Welches dieser Spiele ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Vollborn: Das Halbfinale gegen Frankfurt war unser Endspiel. Zum Zeitpunkt der Auslosung war die Eintracht Tabellenführer der Bundesliga. Wir wollten auf gar keinen Fall auswärts in Frankfurt spielen – und genau dieses Los haben wir gezogen. Die anderen möglichen Gegner waren die Hertha-Amateure oder Chemnitz. 1989 sind wir im Halbfinale zu Hause gegen Bremen rausgeflogen, und 1992  war  gegen Gladbach im Elfmeterschießen Endstation. Dieses Mal wollten wir unbedingt dieses Berlin-Erlebnis haben. Gerade ich in meiner Heimatstadt. Zum Glück hat es geklappt.

Mit einem 3:0-Sieg in Frankfurt erreichte Leverkusen das Finale gegen die  „Hertha-Bubis“, die als erstes Amateurteam überhaupt im Endspiel standen.  Die Zuschauer waren mehrheitlich für den Gegner, dessen Spieler im Schnitt keine 21 Jahre alt waren, und pfiffen Leverkusen gnadenlos aus. Zudem war der Platz nach heftigen Regenfällen nicht der beste. Wie groß war Ihre Angst vor einer Blamage?

Vollborn: Die war nicht da. Weil wir nach dem Frankfurt-Spiel ganz genau wussten, dass wir gewinnen, wenn wir hochkonzentriert in dieses Spiel gehen. Ob wir 1:0 oder  4:0 gewinnen, war uns schnuppe. Schiss hat man nur, wenn man merkt, dass der Gegner doch besser ist als erwartet. Das war aber nicht der Fall.  Uns war nur klar, dass wir absolut nichts zulassen durften.  Und daran haben wir uns gehalten. Damals gab’s das Wort Matchplan noch nicht, aber wir hatten einen ziemlich deutlichen Plan, wie wir das Spiel für uns entscheiden wollten. In meiner Karriere bin ich nie gegen einen Amateurligisten ausgeschieden.  

Dennoch dauerte es bis zur 77. Minute, ehe Ulf Kirsten der 1:0-Siegtreffer gelang. Hand aufs Herz: Sind Sie mit zunehmender Spieldauer  nicht doch ein  bisschen nervös geworden?

Vollborn: Nö. Wieso auch? Ich habe im ganzen Spiel eine Flanke abgefangen und einen Kopfball von der Strafraumgrenze halten müssen. Das war’s. Hertha kam gar nicht vor unser Tor, und wir hatten ja Chancen. Wenn wir vor der Pause das 1:0 gemacht hätten, wäre das Spiel 3:0 oder 4:0 ausgegangen, davon bin ich überzeugt.   

Also hatten die  Hertha-Amateure  eigentlich keine Chance.

Vollborn: Wahrscheinlich gab es in der Geschichte des DFB-Pokalfinales keine Mannschaft, die so viele Gegner hatte wie wir 1993: Nicht nur die 65 000 im Stadion waren gegen uns, sondern auch viele Fernsehzuschauer zu Hause. Die Mehrheit war für den Underdog. Wäre ich auch gewesen, machen wir uns nichts vor (lacht). Trotzdem gab es in dem  Spiel keine Rettung für Hertha. Irgendwann hätten wir unser Tor gemacht, spätestens in der Verlängerung. Wir mussten nur Geduld haben.

Sehen Sie Parallelen zwischen dem Bayer-Team von damals und dem von heute?

Vollborn: Es wirkt auf mich so, dass in der  Mannschaft von heute eine ziemlich gute Kameradschaft herrscht. Es ist ja für einen Trainer nicht immer so einfach, alle bei Laune zu halten. Wir lebten damals auch von unserer Kameradschaft, wir haben  uns untereinander relativ gut verstanden. Ähnlich scheint es dieses Jahr auch zu sein.

Diesmal ist Bayer allerdings kein Favorit.

Vollborn: Ich würde sogar sagen, dass Leverkusen zum ersten Mal in einem Pokalfinale nicht der Favorit ist. 1993 gegen Hertha waren wir klar favorisiert, und 2002 gegen Schalke nach unserer tollen Saison  zumindest leicht. Genauso wie 2009 gegen Bremen, da standen wir in der Bundesliga vor Werder. Diesmal sind wir zum ersten Mal der Außenseiter.

Seit 1993 war Bayer fünfmal Vizemeister, verlor zwei Pokalendspiele und das Champions-League-Finale 2002. Wie sehr schmerzt Sie persönlich der Titel „Vizekusen“? Und wie sehr spüren Sie als Fanbeauftragter die Sehnsucht der Anhänger nach einem Titel?

Vollborn: Die Sehnsucht ist riesengroß. Auch wenn  der Gegner Bayern München heißt: In einem Spiel kann viel passieren. Aber ganz ehrlich: Ohne Zuschauer  habe ich mir den ersten Titel nach 27 Jahren nicht vorgestellt. In meinen Träumen sind 25 000 Leverkusener in Berlin, in der 88. Minute schießen wir das entscheidende 2:1 und die ganze Kurve rastet aus (lacht). Jetzt ist gar keiner da, und das ist  heftig. Trotzdem wünsche ich mir natürlich, dass wir das Ding gewinnen. 

Dürfen Sie wegen der Corona-Beschränkungen überhaupt persönlich dabei sein?

Vollborn: Ja, als einer der  Ehrenspielführer von Bayer Leverkusen bin ich eingeladen. Ob Carsten Ramelow  und Bernd Schneider dabei sind,  weiß ich nicht. Aber Ulf Kirsten, Simon Rolfes, Stefan Kießling und ich werden da sein. 

Beim letzten Aufeinandertreffen in der Liga ging Leverkusen gegen die Münchner zwar mit 1:0 in Führung, ließ sich dann aber mehrfach auskontern und verlor am Ende mit 2:4. Welche Taktik würden Sie Bayer-Coach Peter Bosz für Samstag empfehlen?

Vollborn: (lacht) Da empfehle ich gar nichts, das soll unser Trainer brav alleine entscheiden. Er kennt die Mannschaft und den Gegner am besten. Er wird die Mannschaft aufstellen, die er für die beste hält. 

Das Gespräch führte Alexander Petri.

Zur Person

Rüdiger Vollborn, geboren am 12. Februar 1963 in West-Berlin, spielte als Torwart  von 1982 bis 2000 für Bayer Leverkusen und  ist mit 401 Bundesliga-Partien Rekordhalter des Klubs. 1988 holte  Bayer mit Vollborn den Uefa-Cup, 1993 den DFB-Pokal.  Nach der Karriere fungierte er zunächst als Torwarttrainer der Werkself und formte René Adler vom 15-jährigen Talent zum Nationaltorhüter. Heute ist Vollborn  in der Fanbetreuung  und als Bayer 04-Archivar tätig.

Alexander Petri