Pfaffenhofen
Treibhaus-Salat als Verkaufsschlager

28.04.2011 | Stand 03.12.2020, 2:53 Uhr

Nie wieder Tschernobyl: Zum zehnten Jahrestag der Reaktorkatastrophe standen die Mütter gegen Atomkraft im Jahr 1996 wieder einmal auf dem Pfaffenhofener Hauptplatz. In den Strahlenschutzanzügen steckten übrigens Maria Schlenzger und Kiki Mittelstaedt. - Foto: PK-Archiv

Pfaffenhofen (PK) Kinder durften nicht mehr im Freien spielen, Schwammerlsucher ihre Reherl nicht mehr essen, Apothekenmitarbeiter kamen mit dem Bestellen von Jodtabletten nicht mehr hinterher. Wohl jeder Landkreisbürger jenseits Mitte 30 verbindet mit Tschernobyl seine ganz persönlichen Erinnerungen.

Als die Nachricht von der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl und wenig später auch die nukleare Wolke vor 25 Jahren den Landkreis erreicht, freuen sich die Landkreisbürger aufs Maibaumaufstellen. Erste Berichte, dass es am 26. April in der Ukraine möglicherweise zu einem schweren Atomunfall gekommen ist, werden mehr oder weniger achselzuckend zur Kenntnis genommen. Tschernobyl. Den Namen hat vorher noch niemand gehört und außerdem ist das dortige Kraftwerk 1400 Kilometer weit weg. Die Nachrichten aus der damaligen Sowjetunion fließen spärlich und gefiltert, auch von offizieller Seite hieß es im Freistaat zunächst "keine Gefahr".
 

Als auch sechs Tage nach dem Unglück nur widersprüchliche Informationen über die radioaktive Belastung in Bayern, geschweige denn konkrete Werte aus dem Landkreis, vorliegen, fährt ein PK-Reporter zum Kreiskrankenhaus und trifft sich dort mit Dr. Erich Eibach, dem damaligen Leiter der Nuklearmedizin. Mit dem Geigerzähler geht es in den Innenhof der Klinik und der spielt schnell verrückt. "In Pfaffenhofen: Strahlung 40 Mal so hoch wie normal", titelt der PK in seiner nächsten Ausgabe – Tschernobyl ist nun endgültig auch in Pfaffenhofen und den Kreisgemeinden angekommen. In Kindergärten dürfen die Buben und Mädchen nicht mehr ins Freie, in den meisten Apotheken in der Kreisstadt sind Jodtabletten schnell ausverkauft. Bizarre Szenen spielen sich auf dem Wochenmarkt ab. Hier wird speziell für Salat und Gemüse aus dem Treibhaus als neuem Verkaufsschlager geworben. Metzger bleiben auf manchen Waren sitzen. Schwammerl und Wildfleisch verschwinden von der Bildfläche. Die kurz nach der Katastrophe gegründeten Mütter gegen Atomkraft weisen auf erhöhte Strahlenwerte in Milchprodukten hin (siehe auch Bericht auf Seite 25) und führen den Landkreisbürgern noch nach mehr als zwei Jahren vor Augen, das Tschernobyl und seine Folgen noch lange nicht vergessen werden dürfen. Bei einer Untersuchung wird festgestellt, dass zahlreiche Sandkästen im Landkreis teilweise erheblich radioaktiv verseucht sind – schnell läuft in den Gemeinden eine Austauschaktion an.

Die Verunsicherung der Menschen ist vor allem in den ersten Wochen und Monaten nach dem Unglück förmlich greifbar: In den Arztpraxen stehen die Telefone nicht mehr still, auch Dr. Eibach wird von besorgten Bekannten und Mitarbeitern, aber auch vom Pfaffenhofener Gesundheitsamt um Rat gefragt. Der Strahlenschutzexperte des Krankenhauses mahnt zur Vorsicht, nicht immer erfolgreich: Trotz seiner Warnungen feiert eine große Hochzeitsgesellschaft kurz nach dem Super-Gau in der Ukraine wie geplant im Freien – "eine durchaus symptomatische Verhaltensweise", erinnert sich der Mediziner, "viele Leute haben die Gefahren regelrecht verdrängt".

Die aktuelle Katastrophe in Japan kann man nach den Worten Eibachs nicht mit dem Reaktorunglück 1986 vergleichen – "Tschernobyl war sicherlich schlimmer". Die Folgen von Fukushima für die Politik in Deutschland stuft der Nuklearmediziner, der schon lange Jahre mit seiner Frau in der Nähe von Tübingen seinen Ruhestand verbringt, Pfaffenhofen aber immer wieder besucht, aber durchaus als beträchtlich ein. Schon kurz nach dem Unglück in Tschernobyl habe er dem damaligen Pfaffenhofener Landrat Traugott Scherg das Aus für die geplante nukleare Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf prophezeit und sei dafür belächelt worden. Letztlich habe er recht behalten – die Bauarbeiten in Wackersdorf wurden 1989 eingestellt, die Anlage zum Milliardengrab. Und auch diesmal ist sich der heute 67-Jährige sicher: "Es wird kein einziger der alten Meiler wieder ans Netz gehen", der Ausstieg aus der Kernenergie sei unumkehrbar.