„Clarté“
Theater als moralische Anstalt

Die Kunst- und Lebensbilanz des Opernintendanten Gérard Mortier

01.06.2014 | Stand 02.12.2020, 22:37 Uhr

„Clarté“ – Klarheit: Diese alle anderen europäischen Aufklärer überragende französische Geisteshaltung prägt das Buch: kein gewichtiger Wälzer, kein Fach-Chinesisch, kein intellektuelles Geschwurbel. Bis vier Wochen vor seinem Tod hat Gérard Mortier die Drucklegung begleitet. 103 Seiten Text, glasklar gegliedert, Personenregister, Aufstellung seiner Produktion von 1981 bis 2014, Danksagung – fast in der Westentasche zu tragen. Und genau das wäre zu wünschen.

Entsprechend seiner lebenslangen Liebe zum musikalischen Theater, seiner Praxis und Erfahrung hat Mortier gegliedert. In sieben Kapiteln wird eine Dramaturgie des Genres, der Architektur der Spielorte, des Spielplans, der Werktreue, der Kommunikation, der Uraufführungen und der Arbeit mit Künstlern bestechend und mit Querverweisen durch alle Kunstgattungen klargelegt. Ohne biografische Eitelkeit fließen dabei seine Stationen vom Flandern-Festival über die Aufstiegsstufen in Deutschland, die Intendanz in Brüssel und die kühn prägende Neugestaltung der Salzburger Festspiele nach Karajan ein. Die bis heute nachwirkende Gründungsintendanz der Ruhrtriennale, die Kunstkämpfe an der Pariser Oper, die Absage im kunstkriselnden New York, sogar die brillant scheiternde Bewerbung in Bayreuth und der kämpferische Neuansatz im Teatro Real Madrids liefern Argumente und Beispiele für ein Musiktheater über 2014 hinaus.

Mortier sieht das „Theater als moralische Anstalt“ mehr denn je notwendig für „Warnung wie Vision“. Er sieht nach dem großen Aufbruch der 1960er Jahre auch die Versprechungen der Postdramatik „vorbei“, ohne dass sich die „Erben und Neuerer kraftvoll bemerkbar machen würden“. Die Manager der großen Häuser qualifizieren sich eher als Virtuosen des „Verkaufs eines beliebigen Produkts als durch Innovationskraft und Kreativität“. Mortier verteidigt den politischen Charakter des Theaters in einer verflachenden Mediengesellschaft, die Werte durch Moden ersetzt und in der „der Körper – die äußerliche Erscheinung – das Ich der Person verschlungen hat“.

Mortier plädiert für eine das Publikum anleitende Spielplandramaturgie, um ein „neues Hören und Sehen“ zu ermöglichen: Das 20. Jahrhundert habe mehr zeitlos gültige Werke hervorgebracht als das 19. Jahrhundert mit seinen vierzig Klassikern. Parallel widerlegt Mortier die Argumente sogenannter „Werktreue, Tradition und historischer Stimmigkeit“, die an die Träumerei grenze, wie „sie viele in Disneyland suchen“: Das Theater habe auch unsere Albträume zu erzählen. Differenziert stellt er die von Karajan initiierte Interpretationslinie dar, die dazu geführt hat, dass Plattenlabels Karrieren von großartigen jungen Sängern verhindern, die „nicht den Sex-Appeal von Top-Models für Parfummarken haben“, während doch „die Stimme Dienerin der seelischen Verfassung sein muss“.

Mortier plädiert für Live-Übertragungen zur demokratischen Verbreitung des vermeintlich elitären Gesamtkunstwerks Oper, von Aufführungen durch „Künstler von tiefer Humanität, vollendeter Professionalität, die auf der Suche sind“ – die ihn in Frage gestellt und, bei aller Bereitschaft zum Dialog, nicht auf ihre Ideen verzichtet haben.

Gérard Mortier: Dramaturgie einer Leidenschaft. Für ein Theater als Religion des Menschlichen. Bärenreiter-Metzler Verlag Kassel, 126 Seiten, 24,95 Euro.