Ingolstadt
Statistik fürs Gefühl

Die neue Analyse-Methode Packing bewertet die Effektivität des Passspiels und scheidet die Geister

29.06.2016 | Stand 02.12.2020, 19:36 Uhr

Ingolstadt (DK) Für Mehmet Scholl ist Packing die magische Formel, die den Fußball erklärt. Keine Spielanalyse der ARD bei der EM kommt mehr ohne das neue Statistik-Tool aus. Stefan Reinartz und Jens Hegeler haben Packing erfunden. Ihre Methode sagt viel über einen Spieler aus - hat aber auch ihre Schwachstellen.

Die Statistik ist im Fußball nicht mehr wegzudenken, und am 8. Juli 2014 sprach sie Bände. Die Torschüsse: 18 zu 14. Gefährliche Angriffe: 55 zu 34. Ballbesitz: 52 zu 48 Prozent. Balleroberungen: 46 zu 34. 7 zu 5 Ecken. 22 zu 10 Flanken. In all diesen Parametern lagen die Brasilianer vorne. Klare Sache, möchte man meinen. Das Ergebnis aber lautete: 7:1 für Deutschland.

Dieses Halbfinalspiel bei der WM 2014 war der Auslöser für Stefan Reinartz, sich Gedanken über Fußballstatistik und Datenerhebung zu machen. Warum spiegelt die Spielanalyse das Ergebnis nicht wider? Und warum sagen die Daten nichts über den Erfolg und Misserfolg der Mannschaften aus? Der ehemalige Eintracht-Spieler hatte eine Idee - und die ist derzeit in aller Munde.

Reinartz und sein Kollege Jens Hegeler, der heute bei Hertha unter Vertrag steht, gründeten 2014 das Start-up-Unternehmen Impect und entwickelten das Packing. Die Grundidee: Es wird ermittelt, wie viele Gegner ein Spieler mit Pässen Richtung gegnerisches Tor überwindet - egal ob durch Dribblings, Vertikal- oder Diagonalpass. "Diese Gegner können ihr Tor nicht mehr verteidigen, sie sind ,gepackt' und aus dem Spiel genommen", erklärt Reinartz. Sie werden aufaddiert und ergeben die "Packing-Rate" des Spielers.

Bei Reinartz' Methode zählt also nicht die Quantität, sondern die Qualität der Pässe. Wer nur hinterherläuft und Querpässe spielt, hat zwar eine gute Passquote und überzeugt bei den Laufwegen, doch schneidet beim Packing schlecht ab. Reinartz glaubt, dass die Methode "ein Bewusstsein dafür schaffen wird, was effektiv ist".

Bei der EM unterstützt er das DFB-Team in seiner neuen Funktion als Datensammler. Auch die ARD greift auf dieses neue Statistik-Tool zurück. In der Bundesliga nutzen Bayer Le-verkusen, Borussia Dortmund und Aufsteiger RB Leipzig die Methode. "Packing bestätigt ein Gefühl", schwärmte ARD-Experte Mehmet Scholl. "Das ist Bestätigung für Dinge, die ich nicht statistisch erklären kann."

Die Leistung von Toni Kroos etwa. Der Mittelfeldspieler überwindet pro Spiel 85 Gegner. Der Schnitt eines Profis auf seiner Position in der Bundesliga: 28. Auch im Auftaktspiel der DFB-Elf gegen die Ukraine war Kroos für viele Beobachter der beste Mann auf dem Platz. Kein Wunder: Er nahm 112 Ukrainer aus dem Spiel. Beim 1:0-Sieg gegen Nordirland hatte Mesut Özil die beste Packing-Rate - und wurde prompt "Man of the match". Auch wenn man sich die Packing-Daten der ersten beiden Spieltage der EM ansieht, kommt man schnell in den Versuch, auf die Euphoriewelle der neuen Analyseform aufzuspringen: In 24 Partien gewann 14-mal das Team mit der höheren Packing-Rate. Achtmal endete das Spiel unentschieden, nur zweimal lag der Wert daneben. Beim sogenannten "Impect-Wert" überzeugt Packing sogar noch mehr: Die Mannschaft, die mehr Verteidiger, also die letzten sechs Spieler inklusive Torwart, überspielte, gewann am Ende auch die Partie - zu 100 Prozent. In der vergangenen Bundesliga-Saison lag der Wert immerhin bei 86 Prozent. "Das ist schon ein Indikator, der zeigt, dass Packing Sinn hat", sagt Hegeler.

Scholl glaubt sogar, dass Packing die Trainingsmethodik und das Scouting verändern wird. Allerdings ist die Methode nicht immer fair: Kann der Mitspieler den Ball nicht ins Tor schießen oder weiterleiten, trägt das nicht zum Packing-Wert bei. Ein Fußballer ist daher sehr von den Fähigkeiten seiner offensiven Mitspieler abhängig. In der Natur des Spiels liegt es außerdem natürlich auch, dass Verteidiger eine höhere Packing-Rate haben als Stürmer.

Die deutsche Nationalmannschaft überspielte in der legendären Nacht von Belo Horizonte übrigens 402 Spieler, davon 84 Verteidiger. Die Brasilianer: 341 Spieler, davon 53 Verteidiger. Spätestens jetzt wird klar: Das 7:1 im WM-Halbfinale ist auch statistisch erklärbar.