Stadtgeflüster vom 31. August 2011

30.08.2011 | Stand 03.12.2020, 2:27 Uhr

(reh) Die Entscheidung war höllisch knapp.

Das hören wir direkt aus dem Büro des Bahnchefs. In seinem Haus wird der Raum auch die Grube Rüdiger genannt. Aktuell treibt sich der gleichnamige Manager von Deutschlands größtem Transportbetrieb nur zu gerne im Untergrund herum. Irgendwo fast vor Thüringen ist ihm gerade der Durchbruch durch die Eierberge gelungen. Nach Bahnmaßstäben bereits übermorgen, für den Normalbürger heißt das 2017, soll man über diese Trasse mit dem ICE in nur vier Stunden von München nach Berlin rauschen können. Ein weiterer Beitrag der Bahn zu ihrer Erlebniswelt Mobilität. Wie ebenfalls zu hören ist, lässt die Grube-Truppe bald mit einer Art Flexitarif aufhorchen. Schnelle Reisen sind (gegen einen Aufpreis) nur in einem angepassten Zeitraum möglich. Wer den Aufschlag nicht zahlt, der muss im Sommer reisen, wenn die Klimaanlagen versagen. Oder aber im Winter einsteigen, wenn Weichen oder Räder einfrieren und der ICE als rollender Kühlschrank seiner Übersetzung aus dem Englischen alle Ehre macht.

Das ist noch Zukunftsmusik. Realität ist dagegen diese knappe Entscheidung. Sie sorgt für ungebremsten Gesprächsstoff. Die Bahn hat ihren Bahnhof des Jahres in einer Groß- und in einer kleineren Stadt geehrt. Soll noch einmal jemand sagen, im Osten gebe es keine blühende Landschaften. Leipzig und Halberstadt machten das Rennen. Sie begeisterten mit ihrer angenehmen Atmosphäre. Die Vorzeigehaltestellen setzen sich nur äußerst knapp gegen zwei extrem langlebige Projekte des Schienenbetriebs durch: Europas größter Kopfbahnhof in Leipzig lag in der Gunst der Jury minimal vor seinem Schwesterbauwerk in Stuttgart, das ebenfalls alles bietet, was der Reisende sich vorstellen kann: hohe Polizeipräsenz, regelmäßige Massenveranstaltungen, vollumfängliche Betreuungsangebote der Staatsgewalt für Zauntouristen, aktuelle Fahrgastinformationen in nahezu allen Medien und vieles mehr.

Mit dem Kuschelambiente setzte sich Halberstadt in seiner Kategorie gegen den hartnäckigsten Konkurrenten durch, der nur Ingolstadt geheißen haben kann. Der Hauptbahnhof der Schanzer bestach seit Monaten durch einen einzigartigen Erlebnisfaktor auf den Weg zu den Zügen, gleichbleibende Qualitätsstandards im neuen Tunnel, eine emissionsarme Umgebung beim Besuch von Ingolstadts neuester Tropfsteinhöhle unter Gleis 1. Leider tut die Bahn nun alles, um mit den wieder aufgenommenen Bauarbeiten dieses Idyll der stockenden Barrierefreiheit zu zerstören. Dabei haben die Ingolstädter ihren rustikalen Bahnhalt in dieser Form schon lieb gewonnen. Doch was lässt man in einer Boomtown nicht alles über sich ergehen, um bei einem weiteren Ranking irgendwann ganz vorne zu liegen.