Spurensuche in der eigenen Geschichte

Wie Murnau die Zeit zwischen 1919 und 1950 in Forschung und Kunst aufarbeitet

04.08.2020 | Stand 23.09.2023, 13:21 Uhr
Publikation und Ausstellungen: Das Schloßmuseum zeigt Dokumente aus der Zeit von 1919 bis 1950 und Kunst, wie etwa die Collage "Soldaten um Acheleschwaig I" von Nikolaus Lang. −Foto: VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Murnau - "Wie in einem Brennglas komprimiert sich die deutsche Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hier in Murnau.

" Rolf Beuting, Erster Bürgermeister des Marktes Murnau, begründet mit diesen Worten, warum die Landsberger Historikerin Edith Raim den Auftrag zu einer dreijährigen Forschungsarbeit über Murnau in den Jahren 1919 bis 1950 erhielt. Das Ergebnis sind 750 Buchseiten und eine Dokumentationsausstellung im Schloßmuseum Murnau, und für beides wählte man den Titel "Es kommen kalte Zeiten". Denn so lautete die Diagnose des deutschsprachigen Schriftstellers ungarischer Nationalität Ödön von Horváth 1937 in seinem Roman "Jugend ohne Gott". Horváth hatte rund zehn Jahre lang im Markt Murnau an Stammtischen gesessen und sich Notizen gemacht - seine literarischen Werke sind auch eine Chronik des sich wandelnden Zeitgeistes.

Horváth liefert denn auch die beißenden, analytischen Zitate, die als Motto in jedes Buchkapitel einführen. Edith Raim analysiert die Armut im Murnauer Moos, das Aufstreben der NSDAP, den Fremdenverkehr und den Fremdenhass, die Verführung der Jugend im Dritten Reich, die Kriegsjahre und schließlich die Besatzungszeit. Der Blick von Raim geht in die Tiefe, sie nähert sich dem Alltag der Menschen, um zu verstehen, welche Entwicklung hier stattgefunden hat in einem Markt von 3000 Einwohnern, die das Moorgras als Streu für ihre Kuh trockneten, ein Fremdenzimmer für eine Mark vermieteten und Unterhaltung suchten in 60 Vereinen.

In privaten Archiven haben sich erstaunliche Dokumente erhalten, die jetzt in der Ausstellung gezeigt werden können: Gästelisten und Einladungen zu Faschingsfesten, Schützenscheiben mit dem "verhassten Franzosen" als Zielscheibe, und auch das offizielle Wahlergebnis der Landtagswahl 1924, als der "Völkische Block" in Murnau schon mehr Stimmen erhält als die Bayerische Volkspartei. Verräterisch sind auch die Anzeigen im örtlichen Staffelsee-Boten, in denen Privatpersonen damals ganz ungeniert Gerüchte und Drohungen verbreiten, als wäre Facebook schon erfunden gewesen. "Die Streitkultur in einer Gemeinde wäre sicher ein eigenes Buch wert? Beleidigungen und Verleumdungen geben gute Einblicke in Konflikte und Wertvorstellungen einer Gesellschaft", so Raim. Genau von diesen öffentlich ausgetragenen Streitfällen lebte freilich ein Literat wie Ödön von Horváth.

Für das sichtbare Aufstreben der NSDAP-Anhänger gibt es ein Datum: die Saalschlacht von Murnau am 1. Februar 1931. Rund 300 Menschen waren in der Gastwirtschaft Kirchmeir versammelt - vordergründiger Anlass war der Vortrag eines SPD-Politikers, aber die Anhänger der NSDAP duldeten keinen "fremden" Wahlkampf in Murnau. Die vom Zaun gebrochene Rauferei endete mit etwa 30 Verletzten und in einer Gerichtsverhandlung, bei der auch Horváth als Zeuge gehört wurde.

Protokolle, Aktennotizen und deutschlandweite Presseberichte hat die Historikerin ausgewertet - am lebendigsten aber konnte der leider 2011 verstorbene Zeitzeuge Werner Kraus darüber erzählen, dass am Ende "Freund und Feind auf dem engen Steinbalkon des Arzthauses standen, und da war es zu eng, um noch ,Argumente' auszutauschen", wie er als Zehnjähriger beobachten konnte, während das Blut von oben herab in den Schnee tropfte. Genau diese Zeitzeugen sind heute nicht mehr greifbar. Ein Medienraum in der Ausstellung ergänzt die historischen Dokumente mit literarischen Zitaten von Marieluise Fleißer bis Kurt Tucholsky sowie mit einigen Video-Interviews, bei der auch das Murnauer Original Werner Kraus zu Wort kommt.

Bürgermeister Beuting betont in seinem Vorwort des gewichtigen Bandes, dass die Forschungsarbeit auch vergeben wurde, denn "erneut droht der Rechtspopulismus, salonfähig zu werden". Aus dem gleichen Grund entstand der Plan von Museumsleiterin Sandra Uhrig, im Schloßmuseum eine zweite Ausstellung zu zeigen, die die historischen Fakten durch die Kunst ergänzt.

"Schattenzeiten - Künstler zwischen Anpassung und Widerstand" lautet der Titel der Schau, die einen weiten Bogen schlägt zwischen den Angst-Bildern eines Francisco de Goya oder Werken von Paul Klee, Käthe Kollwitz und Alfred Kubin bis hin zu Arbeiten von zeitgenössischen Künstlern. Leider bewirkte der Sparzwang in Corona-Zeiten, dass einige avisierte Leihgaben nur als Reproduktion gezeigt werden können. Aber einen fulminanten Schlusspunkt setzt der Murnauer Konzeptkünstler Nikolaus Lang mit seinem Zyklus "Soldaten um Acheleschwaig" - eine Kollage aus Fundstücken, vom amerikanischen Bonbonpapier bis zu drei Gewehren, die er aus dem Erdboden bei Saulgrub geborgen hat. Für diese Recherche kleidet sich Lang in ein selbst gebundenes Gewand aus Moorgras, um sich quasi als Schamane in vergangene Zeiten zurück zu bewegen und wie ein Profiler Zeugen des Krieges aufzuspüren. Und so gelingt mit der aufwändigen Forschungsarbeit von Edith Raim und dem sinnlich erfahrbaren Kunstgenuss eine Spurensuche, die Vorbild-Funktion für andere Gemeinden haben könnte.

DK


"Es kommen kalte Zeiten - Murnau 1919-1950", Volk-Verlag, 29,90 Euro, Ausstellung im Schloßmuseum Murnau bis 22. November. Die Schau "Schattenzeiten" ist bis 6. September zu sehen, Di bis So, 10 bis 17 Uhr.

Annette Krauß