Ingolstadt
"Schritt zurück in die Kaiserzeit"

Bei der DGB-Kundgebung am 1. Mai ging es um Europa und mehr Einkommensgerechtigkeit

02.05.2019 | Stand 23.09.2023, 6:51 Uhr
Kämpferisch gab sich IG-Metall-Chef Bernhard Stiedl bei der Maikundgebung am Paradeplatz. Zuvor war er zusammen mit mehreren Gewerkschaftlern und Politikern durch die Innenstadt gezogen. Dabei hatte die DGB-Jugend mit einer spektakulären Aktion für Aufsehen gesorgt. −Foto: Brandl

Ingolstadt (DK) Das Thema Europa stand im Zentrum der Veranstaltungen des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) zum Tag der Arbeit am 1. Mai.

In Ingolstadt beteiligten sich Hunderte Gewerkschaftsmitlieder sowie Funktionäre und Vertreter aus der Politik an der Kundgebung unter dem Motto "Europa. Jetzt. Aber richtig! "

Auf dem Weg vom Brückenkopf zum Paradeplatz, den der Teilnehmerzug jedes Jahr traditionell nimmt, wurde allerdings zuvor eine Mauer eingerissen. Die Jugend des DGB hatte sich die Aktion in der Fußgängerzone ausgedacht und wollte damit ein Zeichen setzen gegen Fehlideologien wie Faschismus, Hass und Krieg. Die Wand aus rot bemalten Kartons war vor dem Zugang zum Paradeplatz aufgebaut worden. Die jungen Leute warfen sich ihr im Laufschritt entgegen, bis sie in sich zusammenstürzte.

Bevor es in den Reden um Europa ging, setzten die klassischen, deshalb aber nicht minder aktuellen Themen der Gewerkschaftsarbeit den Schwerpunkt in den kämpferisch vorgetragenen Ansprachen, die immer wieder von kräftigem Applaus und Zustimmungsbekundungen unterbrochen wurden. Bernhard Stiedl, Vorsitzender des DGB-Stadtverbands, kritisierte in seiner Begrüßung die ungerechte Einkommensverteilung in Deutschland und sah darin einen "Schritt zurück in die Kaiserzeit", wie er sagte. Demnach habe die Beschäftigung zwar einen Höchststand erreicht, und die Einkommen seien gewachsen, die Kaufkraft der unteren 20 Prozent der Beschäftigten sei jedoch gesunken.

Weiter sagte Stiedl, die Politik müsse in ihrer Arbeit den Dreiklang aus gesunder Umwelt, bezahlbarer Mobilität und Energie sowie Sicherheit der Arbeitsplätze verfolgen. Hierzu sei es notwendig, dem Menschen Vorrang vor den freien Kräften des Marktes zu geben und der Wirtschaft Rahmenbedingungen zu setzen. Die Rente mit 72, von der eine "Anti-Sozialstaats-Allianz", der Arbeitgeber spreche, bezeichnete Stiedl als "töricht". Stattdessen sprach er sich für "flexible Ausstiegsmöglichkeiten mit akzeptablen Renten vor dem 67. Lebensjahr" aus und forderte ein höheres Rentenniveau, eine Erwerbstätigenversicherung und die Grundrente.

Die Automobilindustrie müsse in den kommenden Jahren "massiv in die Entwicklung von Elektrofahrzeugen, Digitalisierung und Mobilitätskonzepte investieren" - die heimische Industrie habe aber die Kraft, die aktuellen Probleme zu überwinden. "Wer dabei nicht nur an die Erfolge von Morgen denkt, hat uns an seiner Seite", sagte er. Angesichts der Entwicklungen in Europa hin zu nationalen Interessen und dem drohenden Brexit, warnte er davor, den Kontinent Rechtspopulisten zu überlassen, die schon Großbritannien ins Chaos geführt hätten. Die EU sei als Friedens- und Wirtschaftsunion begründet worden. "Jetzt müssen wir den nächsten Schritt tun und Europa zu einer Sozialunion weiter einwickeln", forderte er.

Als Gastrednerin war Irene Schulz, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, nach Ingolstadt gekommen. Für sie stehe der 1. Mai nicht nur für Solidarität und Fortschritt, er sei auch "eine klare Kampfansage an die Feinde der Demokratie", gab sie vor dem Hintergrund antidemokratischer Entwicklungen in Europa zu verstehen. Als ein Beispiel nannte sie die Angriffe auf Arbeitnehmerrechte in Österreich und Ungarn. Dagegen habe die IG Metall das Thema Arbeitszeit wieder ins Zentrum gestellt, sagte sie angesichts der jüngsten Tarifabschlüsse, auch in Bayern. Hier fielen jedoch nur noch 53 Prozent der Beschäftigten unter einen Tarifvertrag, gab sie zu bedenken. "Der private Konsum ist der größte Wachstumstreiber", argumentierte sie für höhere Löhne. Das Geld sei bei den Beschäftigten besser angelegt, als an den Aktienmärkten und in Steuerparadiesen. Schulz kritisierte weiter, dass die Mindestvergütung für Auszubildende nur noch 540 Euro brutto betragen solle, gehe es nach dem Bundesministerium für Bildung. Dabei sei der Azubi die Fachkraft von morgen und ein gutes Einkommen die Grundlage für eine solidarische Altersvorsorge, so Schulz. Sie sprach weiter Themen an wie Grundrente ("richtiger Vorschlag"), Mobilitätswandel ("entscheidend für die Region") und befristete Jobs für Berufsanfänger ("Schafft die sachgrundlose Befristung ab"). Vor dem Hintergrund der sich wandelnden Automobilindustrie forderte sie Audi auf, Gewinne in Innovation und Beschäftigte zu investieren sowie endlich eine Standortstrategie zu entwickeln.

Für die DGB-Jugend Ingolstadt sprach ihr Vorsitzender Maximilian Resch. Er äußerte die Hoffnung, dass die Europawahl dazu beitrage, dass zukünftig eine "anständige und menschliche Politik" gemacht werden könne. Das Wichtigste sei jedoch der Frieden, so Resch. Dem Bundesministerium für Bildung warf er vor, bei der Novellierung des Berufsbildungsgesetzes "in die komplett falsche Richtung" zu denken. Demnach sollen zweijährige Ausbildungsberufe ausgeweitet und junge Leute nur noch teilqualifiziert werden. "Wir wollen Auszubildende zu Facharbeitern machen und keine Hilfskräfte entwickeln, die sich schon in fünf Jahren auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr zurecht finden können", sagte er. Resch prangerte vor dem Hintergrund des Bildungsthemas zudem die Situation in Staatlichen Berufsschulen in Ingolstadt an, wo Tafeln und Lautsprecher defekt seien und sanitäre Anlagen nicht zugesperrt werden könnten. "Ist das ernsthaft das, was deutscher Standard ist? ", fragte er. Musikalische begleitet wurde die Maikundgebung von der Audi-Bläserphilharmonie.

 

Lösel: "Europa hat Risse bekommen"

Ingolstadt (mbl) Auch OB Christian Lösel (CSU) stellte Europa in den Fokus seiner Worte.

Der Traum vom besseren Leben in Europa habe Risse bekommen, stellte er fest und sprach damit auf den aufkeimenden Separatismus an. "Manche glauben, in der Kleinstaaterei besseren Chancen zu sehen", sagte er. Die Gewerkschaften machten es deshalb richtig, das Thema auf die Tagesordnung zu setzen. Teil des gemeinsamen Konsens sei es, für ein sicheres und solidarisches Europa zu kämpfen. Lösel warnte aber auch davor, Asien und den USA wirtschaftlich das Feld zu überlassen. Diese würden nur auf Lücken warten, die das "Hickhack" in Europa hinterlasse. Er sagte weiter, dass der "massive Wandel in der Arbeitswelt", wie er sich aktuell auch in der Region zeige (Lösel nannte als Beispiele MediaMarktSaturn und Audi Zulieferer), die Menschen noch "einige Zeit" begleiten werde. In einer ungerechten Bezahlung sah er zudem eine Ursache für den derzeitigen Fachkräftemangel. Lösel kam aber zu dem Schluss, dass ein technologischer Fortschritt auch ein sozialer Fortschritt sein und bei den Arbeitsplätzen ankommen müsse.

Michael Brandl