Raffael ganz nah

Alte Pinakothek in München ehrt ihren Florentiner "Hauspatron" - Studioausstellung mit Vergleichsstudien

01.06.2020 | Stand 23.09.2023, 12:12 Uhr
Kostbares Original: "Heilige Familie Canigiani" von Raffael in der Alten Pinakothek. −Foto: Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Alte Pinakothek

München - Der vor 500 Jahren gestorbene Maler Raffael Santi gehört mit Michelangelo Buonarroti und Leonardo da Vinci zu dem künstlerischen Dreigestirn der italienischen Hochrenaissance. Ein besonderer Verehrer seiner Gemälde war der bayerische König Ludwig I., dessen Galeriedirektor Johann Georg von Dillis auf dem Kunstmarkt nach Raffael-Gemälden jagen ließ.

 

Das zwanzig Jahre dauernde Feilschen um die "Madonna Tempi" böte Stoff für einen Kriminalroman, zumal Verwalter geschmiert und eine Geliebte bestochen werden sollten und der Besitzer, der Marchese Tempi in Florenz, schließlich den Preis verdoppelte. Dieses innige Bild der Mutterliebe aus der Alten Pinakothek schmückt als Leihgabe nun die große Raffael-Ausstellung in Rom, die nach der Corona-Pause am 6. Juni wiedereröffnet wird. In London wartet eine zweite große Raffael-Schau der National Gallery auf ihre Wiedereröffnung. In Münchens Alter Pinakothek ist Raffael dagegen jetzt schon wieder zu sehen.

Andreas Schumacher, Referent für die italienische Malerei, hat für seinen "Hauspatron" eine kleine, feine Studio-Ausstellung vorbereitet - schließlich wurde der Grundstein des Hauses 1826 an Raffaels Geburtstag gelegt. Heute ist umstritten, ob der Künstler am 6. oder 7. April 1483 in Urbino zur Welt gekommen ist, aber umso facettenreicher ist der Blick, den Schumacher auf diesen Künstler wirft. Denn er kombiniert die beiden Münchner Raffael-Originale, die "Heilige Familie Canigiani" und die "Madonna della Tenda", mit Werken aus dem näheren und weiteren Umfeld und ermöglicht damit Vergleichsstudien zu Bildern seiner Vorbilder Perugino und Leonardo da Vinci, aber er nimmt auch die Rezeption des 19. Jahrhunderts in den Blick, als die Raffael-Verehrung ihren Höhepunkt erreichte. Besonders gelungen ist die Inszenierung des privaten Andachtsbildes der "Heiligen Familie" als eine Art Hausaltar im Museum.

Der Florentiner Tuchhändler Domenico Canigiani hatte das Werk 1507 anlässlich seiner Hochzeit beim Künstler bestellt, und die Komposition von Maria mit Jesusknabe, Base Elisabeth mit Johannes und dem Ziehvater Josef als Spitze einer Figuren-Pyramide zeigt vordergründig eine beziehungsreiche Familiengruppe vor einer nördlichen Landschaft. Erst Details wie das Spruchband "Ecce Agnus Dei" (Sieh, das Lamm Gottes), die Hand der Maria auf der zukünftigen Seitenwunde Jesu und das Füßchen des Jesusknaben auf dem Fuß seiner Mutter deuten subtil an, dass daraus großer Schmerz und weltumspannende Erlösung erwachsen. Die häusliche Andacht richtete sich also sowohl auf die Betrachtung menschlicher Beziehungen und ihrer Harmonie als auch auf den Erlösungsweg Christi.

Wie mit Händen zu greifen ist der dünne, faltige Stoff, mit dem Raffael die Leiber umhüllt, und eine kunstvolle Verschränkung der Körper zeigt sich in der Symphonie von acht großen und kleinen Füßen im unteren Bereich des Bildes. Augenfälliger Gegensatz dazu ist die Variation des Bildes, die Friedrich Overbeck 1825 malte. Zwar gelingt ihm eine von Raffael inspirierte Landschaft im blauen Dunst der Ferne, aber der klare Umriss der Figuren und ihre dicken Gewandstoffe lassen das Bild ungleich schwerer wirken.

Welche Leichtigkeit und Duftigkeit Raffael in der Ölmalerei erreichen konnte, zeigen die Engel in den oberen Bildecken, mit denen er seine Komposition vollendete. Der französische Restaurator Francois-Louis Collins hielt genau diese für unvollendet, beschädigte sie bei einem Restaurierungsversuch und übermalt sie mit Himmelblau - bis zur abermaligen Restaurierung des Bildes 1983, die die Putten wieder sichtbar machte.

Die Unbill, die einem Gemälde drohen kann - bis hin zur Zerstörung - ahnte auch schon Ludwig I., weshalb er entschied, "die Kopien der vorzüglichsten Bilder in Schmelzfarben für die Nachwelt zu erhalten, wenn endlich der Zahn der Zeit die Originale zerstört haben wird". Raffaels "Heilige Familie Canigiani" wurde von dem Nymphenburger Porzellanmaler Christian Adler im 19. Jahrhundert quasi "blind" als Porzellanmalerei kopiert, weil erst durch den Brennvorgang die tatsächlichen Nuancen der Schmelzfarben sichtbar werden. Ein Werk, das ästhetischen Ansprüchen genügt und in seiner Kunstfertigkeit Hochachtung verdient.

Der Rundgang in Saal IV öffnet die Augen für ganz unterschiedliche Malstile und für eine wechselvolle Raffael-Verehrung. Vor dem Original werden die Augen nicht müde, die Kunst dieses Malers, der mit nur 37 Jahre am 6. April 1520 in Rom starb, aus der Nähe zu bewundern. Denn ihm gelang, die Weichheit des Fleisches in diesen kleinen Kinderkörpern so abzubilden, als könnte man sie mit den eigenen Händen fühlen. Und so lässt sich in einer wohl durchdachten, intimen Studioausstellung manchmal mehr erkennen als in der Überfülle einer großen Schau.

DK


Alte Pinakothek München, bis 8. November, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, dienstags und mittwochs bis 20.30 Uhr.

Annette Krauß