Radelnd mitten durch den Trauerzug

30.10.2009 | Stand 03.12.2020, 4:32 Uhr

Radfahren kommt auf dem Ingolstädter Westfriedhof trotz Verbots anscheinend immer mehr in Mode. Einher geht damit eine zunehmende Pietätlosigkeit, die mitunter darin gipfelt, dass bei Beerdigungen mitten durch die Trauergesellschaft gefahren wird. - Foto: Herbert

Ingolstadt (DK) Der Friedhof. Ort der Besinnung, des Gedenkens und der Trauer. Doch mit dem Respekt vor der Totenruhe ist es oft nicht mehr weit her. "Vielen Besuchern ist die Pietät abhanden gekommen", klagt Münster-Mesner Helmut Kellerer. "Nicht mal mehr bei Beerdigungen wird Rücksicht genommen."

Der Mesner ist oft genug auf dem Westfriedhof, um es zu wissen. Gut 80 Beerdigungen im Jahr führen ihn hierher. "Früher war es gang und gäbe, dass man stehen bleibt, wenn ein Trauerzug bei einer Beerdigung vorbeizieht. Die Männer haben den Hut abgenommen, und man hat gewartet, bis die Gesellschaft vorbei war."

Vor allem ältere Leute

Handwerker wie Steinmetzen und Gärtner, die auf dem Friedhof zu tun haben, kennen das noch und halten sich daran. "Erst am Montag hab’ ich einen jungen Steinmetz beobachtet, der sofort seine Arbeiten eingestellt und sein Mütze vom Kopf genommen hat, als wir mit dem Sarg an ihm vorbei gegangen sind." Es sei auch weniger die viel gescholtene Jugend, die durch Respektlosigkeit auffällt, weiß Kellerer. "Die ist nicht so oft auf dem Friedhof und deshalb eher verunsichert und zurückhaltend, wenn plötzlich ein Trauerzug kommt. Es sind vor allem ältere Herrschaften, die negativ auffallen."

Beispiele braucht der Münster-Mesner nicht lange zu suchen. Diese Woche war er vier Mal auf Beerdigungen, und jedes Mal hat er Beobachtungen gemacht, die ihm Recht geben. "Da war eine Frau, vielleicht 70 Jahre alt, die hat unbedingt mit dem Fahrrad durchfahren müssen. Als eine Trauergesellschaft gekommen ist, hat sie kurz angehalten, um dann mitten zwischen dem Sarg und den Leuten durchzufahren", ärgert sich Kellerer. Wenig respektvoll erwies sich auch eine andere Frau reiferen Alters, die auf Knien ein Grab gesäubert hat, während nebenan ein Sarg in die Erde abgesenkt wurde. "Sie hat uns voll das Hinterteil entgegengestreckt." Auf die Frage des Mesners, ob sie nicht wenigstens während der Trauerfeier innehalten wolle, erhielt er nur eine patzige Antwort: "Warum, ich mach doch keinen Krach!", erklärte die Frau und machte weiter.

Eine andere Friedhofbesucherin meinte am vergangenen Montag, unbedingt einen Grabstein schrubben zu müssen, während zwei Parzellen weiter gerade eine Beerdigung stattfand. Auch sie ließ sich durch die Trauergesellschaft nicht davon abbringen.

Mit Gehstock gefuchtelt

Den Vogel schoss in dieser Woche aber ein etwa 80 Jahre alter Mann ab, der am Westfriedhof unterwegs war. Er wählte genau den Weg, der durch einen Trauerzug blockiert war. "Er hat seinen Gehstock wie eine Säbel eingesetzt und damit herumgefuchtelt, um die Leute wegzutreiben. Als niemand zur Seite gegangen ist, hat er laut schimpfend einen anderen Weg gewählt. In Höhe der Trauergesellschaft hat er dann weiter herumgeschimpft", berichtet Helmut Kellerer.

"Es ist leider ein unschönes Phänomen unserer Zeit", bedauert Münsterpfarrer Isidor Vollnhals diese Entwicklung. "Die Menschen werden immer gleichgültiger und respektloser." Seit seiner Kaplanszeit in den 1970er Jahren habe sich viel zum Unguten gewandelt. Kellerers Mesnerkollegen in anderen Pfarreien haben ähnliche Erfahrungen gemacht. "Wir reden da öfter mal drüber", sagt er – ändern könnten sie aber nichts, zumindest nicht in der Stadt. Auf dem Land mag es noch anders sein. "Den meisten hier ist das egal. Aber wen wundert das noch, wo manche nicht einmal mehr zur Beerdigung ihres Nachbarn gehen", sieht der Münster-Mesner in der zunehmenden Anonymität der Großstadtmenschen eine der Ursachen, für diese Art der Respektlosigkeit.

Friedhofsverwalter Andreas Sander kämpft oft vergeblich gegen rücksichtlose Besucher an. Vor allem das Radfahren auf den Wegen ist ihm ein Dorn im Auge. "Aber da kann man hundert Mal am Tag was dagegen sagen. Trotzdem tun’s die Leute und stellen ihre Räder auch noch mitten in den Weg. Bei acht Eingängen kann ich nicht alles im Blick haben."

Spontanes Gebet

Zum Glück gibt es noch andere, die Respekt vor den Toten zeigen. So beobachtet Mesner Kellerer immer wieder einige ältere Frauen, die vor der Aussegnungshalle sitzen und sich spontan Beerdigungen anschließen, um am offenen Grab für die Toten zu beten. Eine schöne Geste in christlicher Tradition, gerade bei den immer häufiger werdenden anonymen Beerdigungen, an denen bis auf den Pfarrer oft kaum noch einer teilnimmt.