München
"Nicht mit dem erhobenen Zeigefinger"

24.08.2018 | Stand 02.12.2020, 15:48 Uhr
Jugendliche betrachten im Münchner NS-Dokumentationszentrum eine Wand mit antisemitischen Klebezetteln. −Foto: Heinl/dpa-Archiv

München (DK) Mirjam Zadoff, Chefin des Münchner NS-Dokumentationszentrums, spricht im Interview über den Anspruch ihres Hauses.

Frau Zadoff, Sie sind jetzt seit gut drei Monaten offiziell im Amt - inwieweit wurden Ihre Erwartungen an die Arbeit in diesem Haus erfüllt?
Mirjam Zadoff: Die Arbeit ist sehr vielfältig, spannend und herausfordernd. Ich habe viele positive Erfahrungen gemacht und schöne Begegnungen gehabt. Ich spüre, dass es ein wichtiger Ort für viele Menschen ist.

Was sind Ihre wichtigsten Pläne und Projekte für die kommenden Monate und Jahre?
Zadoff: Zum einen wollen wir die Zusammenarbeit mit jungen Menschen vertiefen, demnächst konkret mit den Schülerinnen und Schülern einer Berufsschule. Sie werden bei uns im Haus selbst ein Projekt gestalten können. Auch wollen wir internationaler werden, die Zusammenarbeit mit anderen, ähnlich konzipierten Häusern weltweit vertiefen. Und wir möchten in den Ausstellungen einen stärkeren Bezug zur Gegenwart herstellen. Was mir auch wichtig ist: der Radikalisierung in der Sprache entgegenwirken. Trotz unterschiedlicher politischer Ansichten muss man im konstruktiven Streitgespräch bleiben, die verschiedenen Gruppen dürfen sich nicht in ihre jeweilige Blase zurückziehen.

Fühlen Sie sich von politischer Seite ausreichend unterstützt?
Zadoff: Ja, auf jeden Fall - gerade durch die Stadt München. Die Zusammenarbeit im Kulturreferat ist sehr gut. Aber auch darüber hinaus entstehen viele Kooperationen mit anderen Häusern; mit der Universität oder der Landeszentrale für politische Bildung kooperieren wir beispielsweise bei der Lehrerfortbildung. Der Umgang mit der Vergangenheit ist schließlich unser aller Thema.

Stichwort Gegenwartsbezug: Eines der wichtigsten politischen Ereignisse in jüngster Zeit im rechtsradikalen Kontext war der NSU-Prozess - werden Sie ihn thematisch aufgreifen?
Zadoff: Im vergangenen Jahr haben wir bereits eine Wechselausstellung zum Rechtsradikalismus allgemein gemacht, aber wir werden sicher in Zukunft auch das Thema Nationalsozialistischer Untergrund im Speziellen aufgreifen.

Bei Ihrem Antritt im Mai dieses Jahres haben Sie gesagt, Sie wollen dazu beitragen, dass Rassismus und Antisemitismus hier nie wieder um sich greifen können - wie real schätzen Sie die Gefahr aktuell ein?
Zadoff: Das ist ein großes Thema und es wird uns ganz sicher die nächsten Jahre weiter begleiten. Ich denke dabei auch nicht nur an die Fälle von Antisemitismus und Rassismus, von denen wir über die Medien hören, sondern an die vielen Momente von Diskriminierung im Alltag, zum Beispiel Mobbing auf dem Schulhof. Die Lehrer spielen dabei eine wichtige Rolle, und wir wollen sie dabei unterstützen und beraten, unterschiedliche Formen zu erkennen und diese richtig einzuordnen.

Mit dem früheren Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) hat Bayern jetzt einen hauptamtlichen Antisemitismusbeaufragten. Ist das eine gute Idee aus wissenschaftlicher Sicht oder wird das Problem damit nicht eher aus der Mitte der Gesellschaft ausgelagert?
Zadoff: Dieses Amt zu schaffen war eine gute Idee, denn es gab aufgrund der antisemitischen Überfälle in der jüngeren Vergangenheit ein sehr großes Unsicherheitsgefühl in den jüdischen Gemeinden. Daneben ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den neuen Formen des Antisemitismus nötig: Wo bestehen Parallelen, wo Unterschiede zur Judenfeindlichkeit der 1930er-Jahre? Wir wollen den fachlichen Hintergrund liefern für eine notwendige gesellschaftliche Debatte.

Von ihren Gegnern wird die AfD derzeit in einen NS-Kontext gerückt. Manche Politologen warnen, dass man dadurch den historischen Nationalsozialismus verharmlost und die parlamentarische Auseinandersetzung mit dieser Partei erschwert.
Zadoff: Die AfD stellt sich selbst in diesen Kontext. Ihre Vertreter verwenden in öffentlichen Reden häufig Begriffe, die manchem Außenstehenden vielleicht harmlos erscheinen mögen - beispielsweise wenn der Begriff "Volk" benutzt wird, um Menschen auszuschließen. Da denken Geschichtskundige an die nationalsozialistische "Volksgemeinschaft", mit der normale Deutsche zu Feinden gemacht wurden.

Im Film "Fack ju Göhte III" kündigt Lehrer Müller alias Elias M'Barek einen Klassenausflug an - und sofort jammern Danger und Chantal: "Oh bitte nicht wieder ins KZ! " Der ganze Kinosaal hat gelacht, aber ist das nicht ein Gänsehautwitz nach dem Motto: Das Grauen nervt nur noch?
Zadoff: Ganz wichtig ist: Wir müssen unterschiedlichen Besuchergruppen auch unterschiedliche Formate anbieten, die ihnen den Zugang zum Thema ermöglichen. Bei Jugendlichen beispielsweise sollte das nicht mit dem erhobenen Zeigefinger geschehen, nicht moralisch belehrend von oben herab. Ein guter Weg kann sicher sein, sie mit dem Schicksal von Altersgenossen vertraut zu machen, die sich trotz ihrer Jugend den Nazis entgegengestellt und Widerstand geleistet haben, als positive Identifikationsfiguren. Wir thematisieren aber auch Aspekte wie Propaganda oder die Verfolgung der freien Presse. Das wiederum kennen viele Migrantinnen und Migranten, die vielleicht nicht so gut mit der NS-Zeit an sich vertraut sind, aber daheim schon mal die Mechanismen eines politischen Unterdrückungsapparats erfahren haben.

Das Interview führte André Paul