Ingolstadt
Neues Herz, neues Leben

09.11.2017 | Stand 23.09.2023, 2:47 Uhr
Die Medikamente stapeln sich auf dem Wohnzimmertisch von Jan Kraus. Er muss täglich sogenannte Immunsuppressiva einnehmen, die verhindern, dass das Spenderherz von seinem Körper abgestoßen wird.?Foto: Schmeizl −Foto: Xenia Schmeizl

Ingolstadt (DK) Rund 10 000 Menschen stehen in Deutschland auf der Liste für ein Spenderorgan. Einer von ihnen war der Schrobenhausener Jan Kraus. Der Schwerkranke brauchte ein neues Herz. Nur der Tod eines anderen konnte ihn retten. Er wartete monatelang – dann war es plötzlich so weit.

Manchmal gibt es einen Moment, der alles verändert – weil er den Menschen prägt und danach nichts mehr ist wie zuvor. Der Tag, der das Leben von Jan Kraus in zwei Stücke zerriss und in ein Davor und Danach teilte, war der 25. Oktober 2010. „An diesem Montag im Herbst hat mein neues Leben angefangen. Es ist mein zweiter Geburtstag“, sagt der 66-Jährige und lacht. Kraus war schwer krank. Dass er noch auf der Welt ist, verdankt er einem Toten. Seit jenem 25. Oktober schlägt das Herz eines anonymen Spenders in seiner Brust. Bevor sein zweites Leben begann, musste Kraus aber viel mitmachen – und kämpfen.

Seine Leidensgeschichte beginnt im Jahr 2003. Durch Zufall stellt sich bei einer Routineuntersuchung heraus, dass er einen schweren Hinterwandinfarkt hatte, der bereits längere Zeit zurücklag. Für Kraus kommt die Diagnose überraschend – nie hatte er Probleme mit seinem Herzen. Er fühlte sich fit und gesund.

Der Hausarzt überweist den Schrobenhausener zu Spezialisten ins Münchner Klinikum Großhadern. Der Schock sitzt tief, als ihm die Ärzte sagen, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt. Der unentdeckte Infarkt hatte das Herz schon derart geschwächt, dass es kaum mehr von alleine arbeitete. Nur eine Operation am offenen Herzen kann sein Leben retten. „Es war ein riskanter Eingriff. Mein Leben hing am seidenen Faden. Ich bin dem Tod praktisch von der Schippe gesprungen“, erzählt der 66-Jährige.

Die OP ist ein Erfolg. Kraus kämpft sich Schritt für Schritt zurück ins Leben. Er geht auf Reha und erholt sich langsam. „Ich dachte, ich wäre repariert worden und mein Motor würde wieder ohne Probleme laufen.“ Falsch gedacht. Im Jahr 2008 geht es dem Schrobenhausener immer schlechter. Er leidet an Atemnot, fühlt sich platt und angeschlagen. Der Herzpatient kommt erneut unters Messer. Ihm wird ein Defibrillator eingepflanzt, der Rhythmusstörungen erkennt und das Herz im Notfall wieder in den richtigen Takt bringt. Wieder ist Kraus davon überzeugt, es wäre das letzte Mal, dass er ein Krankenhaus von innen sieht. Er täuscht sich erneut.

Sein Gesundheitszustand verschlechtert sich rapide. Er kann nicht mehr arbeiten gehen, einfache körperliche Tätigkeiten sind für ihn eine Herausforderung. „Ich habe mich wie ein Invalide gefühlt. Ich war so schwach, dass ich meiner Frau nicht mehr im Haushalt oder im Garten helfen konnte.“ Kraus hat eine Vorahnung. Irgendetwas stimmt nicht, das weiß er tief in sich drin.

Abermals stellt sich der Schrobenhausener im Klinikum Großhadern vor. Er wird komplett durchgecheckt. Danach die niederschmetternde Diagnose: Um zu überleben, braucht Kraus ein neues Herz. Sein eigenes arbeitet nur noch zu 20 Prozent. Jeder Tag ohne Spenderorgan ist ein Tag, der ihn dem Tod näher bringt, sagen die Ärzte. Er kommt auf die Transplantationsliste und wird auf die Intensivstation des Kreiskrankenhauses Schrobenhausen verlegt. „Das war wichtig für mich. So war ich in der Nähe meiner Frau, die mich auch ohne Auto besuchen konnte“, sagt Kraus rückblickend.

Tage, Wochen und Monate vergehen. Die Wartezeit für ein Herz beträgt laut der Stiftung Eurotransplant im Schnitt acht bis zehn Monate. Wie lang wird sich der Schrobenhausener gedulden müssen? Hält sein kaputtes Herz durch?

Kraus sieht Patienten auf der Intensivstation kommen und gehen. Manche gehen nach Hause, manche gehen für immer. Er beobachtet durch die streifenfrei geputzten Klinikfenster, wie der Sommer kommt und Monate später auch der Herbst. Und dann, am 25. Oktober 2010, steht ein Arzt vor seinem Bett. Er sagt: „Herr Kraus, wir haben ein passendes Herz für Sie gefunden.“ Der damals 59-Jährige kann es nicht fassen. Sechs Monate hat er auf diesen Moment gewartet – und plötzlich ist er da. Er ist aufgeregt, freut sich, ist aber auch skeptisch. Zu oft hat er mitbekommen, dass im letzten Moment etwas schiefgeht. Dazu kommt die Angst, die OP nicht zu überleben: „Ich habe aus dem Fenster geschaut und mich gefragt, ob ich all das noch mal sehen werde“, sagt er. Ein Rettungswagen bringt Kraus mit Blaulicht ins Klinikum Großhadern. Es muss schnell gehen. Ein gesundes Spenderherz, das entnommen wurde, kann gekühlt und blutleer vier Stunden überleben, länger nicht. Es zählt also jede Minute.

Kurz vor Mitternacht schieben die Schwestern Kraus in den OP. Für seine Ehefrau folgen Stunden zwischen Hoffen und Bangen: „Sie ist in dieser Nacht einmal durch die Hölle gegangen. Es war eine enorme psychische Belastung für sie“, erinnert sich der Ehemann. Während er das sagt, kämpft er mit den Tränen. Seine Stimme zittert. Auf einmal kommen all die Erinnerungen von damals wieder hoch. Nach sechs langen Stunden kann seine Frau aufatmen – die Transplantation ist geglückt. Kraus lebt, sein neues Herz schlägt.

Bis sich der Schrobenhausener vollständig erholt, vergeht ein halbes Jahr. Erst im Sommer 2011 ist er wieder zurück im Leben, er fühlt sich fit und baut ganz allein einen Freisitz. Seit der Herztransplantation sind sieben Jahre vergangen. Kraus führt heute ein fast normales Leben. Aber auch nur fast. Ganz gesund ist er trotz seiner neuen Pumpe nicht. Auf dem Wohnzimmertisch stapeln sich die Schachteln mit Medikamenten. Wegen der Transplantation muss Kraus Immunsuppressiva schlucken. Die verhindern, dass sein Körper das Spenderherz abstößt. Das Problem: Die Substanzen schädigen seine Nieren – so sehr, dass er seit 2016 mehrmals die Woche zur Dialyse muss. „Das schränkt natürlich ein. Aber ich fühle mich trotzdem gut. Ich habe die Lebensqualität, die ich vor der Transplantation nie hatte“, sagt der Schrobenhausener.

In wessen Brust sein neues Herz einst schlug, weiß Kraus nicht. In Deutschland erfahren Patienten nicht, wer das Organ gespendet hat. „Ich habe oft überlegt, ob ich versuchen sollte, zu den Angehörigen des Spenders Kontakt aufzunehmen“, berichtet Kraus. Er ließ es bleiben – zu groß war die Angst davor, bei den Hinterbliebenen schmerzliche Erinnerungen wachzurufen.

Kraus hat trotzdem nie vergessen, wem er sein zweites Leben verdankt. Ihm ist bewusst: Ohne die Organtransplantation wäre er wahrscheinlich nicht mehr auf der Welt. Dass ihn der Tod eines anderen retten konnte – dieser Gedanke quält den Schrobenhausener nicht. Er weiß: „Ich würde für jeden anderen Menschen dasselbe tun. Deshalb trage ich auch immer meinen Organspendeausweis bei mir.“

Fragen und Antworten

Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, um als Organspender infrage zu kommen? Die Voraussetzungen für eine Organspende sind im Transplantationsgesetz streng geregelt: Erstens muss der unumkehrbare Hirnfunktionsausfall („Hirntod“) des möglichen Spenders nach der Richtlinie der Bundesärztekammer festgestellt worden sein. Zweitens muss der Verstorbene in eine Organspende eingewilligt haben oder die Angehörigen müssen unter Beachtung des mutmaßlichen Willens einer Organentnahme zustimmen.

Wer darf nicht Spender werden? Eine Organentnahme wird in der Regel ausgeschlossen, wenn beim Verstorbenen eine akute Krebserkrankung oder ein positiver HIV-Befund vorliegen.

Was ist der Hirntod? Der Hirntod ist definiert als Zustand der unwiederbringlich erloschenen Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms. Er kann beispielsweise als Folge einer Hirnblutung, einer schweren Hirnverletzung oder eines Hirntumors eintreten.

Gibt es eine Altersgrenze für Organspender? Es gibt keine Altersgrenze für eine Organspende. Auch Patienten, die über 90 Jahre alt sind, können unter Umständen Organe spenden und einem schwer kranken Patienten damit die Chance auf ein neues Leben schenken.

Erfährt jemand die Identität des Spenders? Der Name des Spenders wird dem Empfänger nicht mitgeteilt. Auch die Angehörigen des Spenders erfahren nicht, wem ein Organ gespendet wurde.

Welche Organe können gespendet werden? Es können Nieren, Leber, Herz, Lunge, Bauchspeicheldrüse und der Dünndarm übertragen werden.

Xenia Schmeizl