München
Näher ran mit Gefühl

Die Pinakothek der Moderne in München zeigt Arbeiten der Avantgarde-Fotografin Aenne Biermann

17.07.2019 | Stand 23.09.2023, 7:50 Uhr
Joachim Goetz
Aenne Biermann (1898-1933) entwickelte einen eigenen, signifikant modernen Bildstil, der sie innerhalb kürzester Zeit als Vertreterin der zeitgenössischen Avantgardefotografie etablierte: "Blick aus meinem Atelierfenster", "Kinderhände" und "Dame mit Monokel". −Foto: Forster, Stiftung Ann und Jürgen Wilde/Pinakothek der Moderne

München (DK) Fotografie der Neuen Sachlichkeit, Sammlung Wilde in der Pinakothek der Moderne.

Alles klar in München - könnte der erste Eindruck in der Ausstellung "Aenne Biermann - Vertrautheit mit den Dingen" sein. Denn erstmal wirken die Aufnahmen von Aenne Biermann (1898-1933) recht konventionell: freilich im modernen Stil des Neuen Sehens. Schwarz-weiße Fotografie der 20er-Jahre: Pflanzen, die an Karl Blossfeldt erinnern, Gegenstände im Stil der Bauhaus-Fotografie. Die Addition der Motive, das Spiel mit Spiegelungen, mit Schatten, mit Diagonalen. Das alles scheint man zu kennen. Nicht unbekannt.

Und trotzdem besitzen Biermanns Bilder etwas Spezielles, Einzigartiges. 100 sehenswerte Fotos vermitteln diese im Titel versprochene "Vertrautheit mit den Dingen". Was nun nicht so sehr wundert. Biermann, die ihre Arbeit selber gerne kritisch kommentierte, nannte das 1930 selber so. Die Kuratoren sagen, Biermann entlocke den Personen und Gegenständen ihres alltäglichen Umfelds eine besondere Poesie. Und neben klaren Strukturen zeichneten die Werke präzise Kompositionen mit Licht und Kontrast - sowie detailbetonte Bildausschnitte aus.
Was das heißt? Ein einfacher Querschnitt durch einen Rotkohlkopf präsentiert es. Die Aufnahme zeigt -wer gerne Gemüse kocht und schnippelt, dem ist die faszinierende Figur nicht unbekannt - ein baumartiges Krakele in einer runden Umhüllung. Auch dem Spiegelei in der Pfanne gewinnt sie ein besonderes Flair ab. Die Sicht auf die Küchenarbeit komplettieren aufgeschnittene Blutorangen, in Stücke zerteilte Kokosnüsse, Eier im Netz, Wassermelone, Äpfel und andere Früchte.

Was ist der Unterschied? Biermann geht mitunter einfach näher ran, an den Speck, an Motive wie Wärmflaschen, Klaviertasten, Pflanzenblätter. Und fügt der abstrakten Ästhetik oft die Sicht des Nutzers hinzu. Aufgeschnittene Früchte vermitteln einfach auch den Eindruck, dass man sie essen kann. Ziemlich ungewöhnlich ist auch ihre Sicht auf die stimmungsvolle, dabei eiskalte Atmosphäre des Winters: "Silberpappel im Winter", "Wald im Rauhreif" oder "Eiszapfen am Kreuzeck" sind die Beispiele. Noch beeindruckender: Biermanns Sicht auf die Menschen ihrer näheren Umgebung. Das war auch der Ausgangspunkt ihrer fotografischen Karriere. Bis 1926 setzte sie die Kamera nahezu ausschließlich zur Dokumentation der Entwicklungsphasen ihrer beiden Kinder Helga, geboren 1920, und Gerd, geboren 1923, ein. Da spielt das Gefühl eine große Rolle, die ersten Aufnahmen gelten noch als technisch unbeholfen.

Die am Niederrhein in Goch in einer jüdischen Fabrikantenfamilie aufgewachsene Autodidaktin - ohne Ausbildung, aber musisch gefördert - erprobte hier die Möglichkeiten des Mediums. Und schuf bald Porträts und Körperbilder, die sowohl mit ihrer mustergültigen fotografischen Bildgestaltung als auch mit emotionaler Nähe faszinieren.

Nach ihrer Hochzeit mit Herbert Biermann war die geborene Aenne Sternefeld nach Gera gezogen und und dort in jenem großbürgerlich-intellektuellen Milieu gelandet, das moderne Strömungen in Kunst und Kultur im eigenen Lebensradius kultivierte. 1928 kam der Durchbruch mit einer Einzelausstellung im Graphischen Kabinett Günther Franke in München. Es folgten Publikationen und Beteiligungen an zahlreichen bedeutenden Ausstellungen wie "Film und Foto" (1929). Biermanns Aufnahmen wurden in Wettbewerben prämiert, in Büchern, Kunstzeitschriften und illustrierten Magazinen veröffentlicht. Mit der in Franz Roths Reihe "Fototek" erschienenen Monografie "Aenne Biermann. 60 Fotos" - sie lässt sich als Video-Blätterwerk in der Schau anschauen - war die Fotografin als feste Größe der fotografischen Avantgarde etabliert. Ihr früher Tod infolge einer Lebererkrankung und die Emigration der Familie nach Palästina förderte das Vergessen ebenso wie der Verlust ihres 3000 Negative umfassenden Archivs. Ann und Jürgen Wilde trugen in vier Jahrzehnten eine Sammlung von über 70 Arbeiten zusammen, die Biermanns Schaffen repräsentativ sichtbar macht. Und nun zusammen mit Leihgaben ins Gedächtnis rufen.

Pinakothek der Moderne in München, bis 13. Oktober, Di bis So 10 bis 18, Do bis 20 Uhr. Begleitprogramm mit Führungen, Workshops, Kino unter www. pinakothek. de.

Joachim Goetz