Ingolstadt
Musik zum Überleben

Sol Gabetta spielt das zweite Cellokonzert von Peteris Vasks

22.07.2018 | Stand 02.12.2020, 16:01 Uhr
Ewiger Melodienrausch: Sol Gabetta interpretiert das ihr gewidmete Cellokonzert von Peteris Vasks. −Foto: Sauer

Ingolstadt (DK) Ein Gesichtsausdruck sagt manchmal mehr als alle Worte. Der lettische Komponist Peteris Vasks hebt die Arme und verzieht sein Gesicht zu einem liebenswürdigen Lächeln. Aber es ist kein richtiges Lächeln, man könnte die breit auseinanderlaufenden Falten auch als Weinen interpretieren. Oder als komische Verzweiflung, weil er dabei kopfschüttelnd die Arme hebt. Es ist von allem ein bisschen, und das macht es so ungewöhnlich, fast ein wenig absurd. Es schildert die ambivalente Haltung, die widersprüchlichen Gefühle, die der 74-Jährige mit seinem Leben, seiner Geschichte verbindet.

Vasks spricht über das, was sein Leben mehr als alles andere bestimmt hat. Die sowjetische Herrschaft in seiner lettischen Heimat, die fast 50 Jahre lang sein Leben bestimmte. Er sagt, dass sie damals alle in einem riesigen Gefängnis gelebt haben. Dass er als Kompositionsschüler „wissenschaftlichen Marxismus-Leninismus“ studieren musste, und er dafür gelogen hat, was das Zeug hält. Und dass die Musik seine Zuflucht war. „Komponisten wie Arvo Pärt, Henryk Górecki und ich haben einen spezifischen Stil entwickelt, weil für uns die Musik mehr bedeutete, als für die Komponisten des Westens. Für uns war sie existenziell, wir haben komponiert, um zu überleben“, erzählt er, wird dabei plötzlich sehr ernst und greift nach seinem Herz. Dann blickt er nach oben und redet von dem, was er mit seiner Musik ausdrücken möchte: Hoffnung, einen Glauben an ein besseres Leben, an eine spirituelle Dimension, die unser Menschsein ausmacht.
 
Vasks hat zwar fast nur Instrumentalwerke geschrieben. Dennoch ist er ist ein großer musikalischer Erzähler. Er berichtet von all dem, was er erlebt hat, von der furchtbaren Sowjetdiktatur, von seiner tiefen Religiosität, von seinem Humanismus mit einer Tiefe und existenziellen Kraft, wie sie sonst kaum je zu hören ist. In den letzten Jahren ist er immer milder geworden, die Dissonanzen verschwanden allmählich immer mehr aus seinen Werken, genauso wie der böse Sarkasmus, die wilden Märsche. Dafür sind seine letzten Werke zunehmend von Schönheit überschwemmt. Zu diesen Werken zählt auch das zweite Cellokonzert, dass er 2012 für Sol Gabetta komponiert hat. Mit einer CD-Einspielung des Werks wurde sie sogar mit einem Klassik-Echo ausgezeichnet.
 
Vasks ist mit Sol Gabetta und dem Kammerorchester Basel nach Ingolstadt in die Asamkirche gekommen, um es als Hauptwerk des sechsten Konzertabends der Audi-Sommerkonzerte vorzustellen. Der Titel des Abends lautet „Der Seele Nahrung“ und passt perfekt zu dem Cellokonzert.
 
Man könnte das Konzert leicht als neoromantischen Kitsch abqualifizieren. Aber ein solches Urteil würde zu kurz greifen. Originell ist das Konzert nicht, weil es kompositorisch so raffiniert wäre, harmonisch reich oder polyfon. Sondern, weil es so einfach und zugleich so ergreifend ehrlich eine Weltdeutung transportiert, den sogar Menschen begreifen, die die Geschichte dahinter allenfalls erahnen: Die Entstehung des Kosmos und der Töne, von der in der langen Kadenz des Cellos am Anfang des Konzerts erzählt wird, die Verherrlichung von Liebe und Idealismus, die zu hören ist, wenn die Streicher einsetzen und dem Celloklang eine schillernde Unterlage bereiten. Dann die aggressive, an Schostakowitsch erinnernde Gegenwelt, die den zweiten Satz beherrscht. Und schließlich die Rückkehr zum Wohlfühlklang des Beginns. Bis auch dieser Melodienstrom erstirbt – und plötzlich ein Neubeginn mit einem zerbrechlichen Wiegenlied, das Sol Gabetta selber singt, indem sie sich mit dem Cello begleitet. Das ist ein ergreifender Ablauf, dem man sich kaum entziehen kann. Es ist fast eine Komposition jenseits der klassischen Musik. Denn hier werden kaum Motive verarbeitet, jahrhundertelang das genuine Kennzeichen dieser Musikrichtung. Vielmehr spinnt Vasks ewig lange, mäandernde Melodiebögen, die anschwellen, dramatisch werden und plötzlich abbrechen oder versiegen. Sol Gabetta spielt das kongenial, weil sie ihr Instrument in den beiden langsamen Sätzen wirklich zum Singen bringen kann, weil sie den Atem hat für diese hinreißend langen Bögen. Das ist eine Frage der Technik, aber auch der inneren Intensität. Und sie hat den Mut, am Ende die Brüchigkeit des Neuanfangs zu formulieren. 
 
Die Stärke, die von diesem Werk ausgeht, erreichen die beiden anderen Kompositionen des Abends nicht. Leopold Mozarts Konzert für Alphorn mit dem Solisten Olivier Darbellay ist eher eine Kuriosität. Und Wolfgang Amadeus Mozarts „Posthorn-Serenade“ ist kaum mehr als hervorragend gemachte Unterhaltungsmusik. Das Kammerorchester Basel versucht nicht einmal, sie  mit einer besonderen Bedeutung aufzuladen. Die Musiker vermeiden einen allzu schroffen Zugriff, tänzeln sich lieber gemütlich durch die Partitur, genießen die Soli von Oboe und Flöte, den kurzen Ruf des Posthorns und das flotte Presto am Ende. Bravos und Ergriffenheit für das Werk von Vasks und freundlicher Applaus für den Mozart am Endes des Konzerts.