Ingolstadt
Haydns Urknall

Zu ihrem Jubiläum begeistert die Audi-Jugendchorakademie bei den Sommerkonzerten erneut mit der „Schöpfung“

22.07.2018 | Stand 02.12.2020, 16:01 Uhr
Strahlkraft und Präzision: Martin Steidler leitet Haydns Oratorium „Die Schöpfung“ im Ingolstädter Festsaal. −Foto: Sauer

Ingolstadt (DK) Ein in vier Oktaven im vollen Orchester erklingendes C, ein einziger Ton im Forte – ohne Akkord: Leere, Öde, Formlosigkeit, die unendlich langsam in einer Fermate verebbt. Es gibt noch keine Organisation von Tempo.

Verminderte Akkorde, freie Dissonanzen, überraschende Modulationen. Um die Orchestereinleitung seiner „Schöpfung“ hat Joseph Haydn immens gerungen, immer wieder neu gesucht, sie mehrmals überarbeitet. Für einen Komponisten ist es eine schier unlösbare Aufgabe, die „Vorstellung des Chaos“ in Töne zu setzen – verkörpert dieses doch per se genau das Gegenteil von Musik, die ihrer eigenen Ordnung, ihren festen Regeln folgt. Leittöne, Melodiefetzen, Triller, Trugschlüsse suchen sich zunächst zaghaft, dann aufbegehrend ihren Weg, ehe sie scheinbar wieder in der Stille zerfließen. Nach den einleitenden Worten des Erzengels Raphael (andächtig fesselnd gesungen vom jungen Bass Matthias Winckhler) setzt hauchzart der Chor ein, lässt den Geist Gottes über dem Wasser schweben, schwillt leicht an, um beim wohl berühmtesten „Urknall“ der Musikgeschichte triumphal zu explodieren: „Und es ward Licht!“ 
 
Dieses jugendliche Feuer, diese vokale Frische, diesen stimmlichen Enthusiasmus behalten die rund 60 Sängerinnen und Sänger der grandiosen Audi-Jugendchorakademie in all ihren opulenten Lobpreis-, Dank- und Jubelpassagen des dreiteiligen, monumentalen Oratoriums auf beeindruckende Weise bei, nehmen in enormer sprachlicher Präzision und wohlartikulierter Ausgestaltung selbst feinst nuancierteste Abstufungen ihres Leiters und Dirigenten Martin Steidler auf. Über die Jahre hat der semiprofessionelle Chor unter seiner Führung – sowie dank eines versierten Teams an Assistenten und Stimmbildnern – deutlich hörbar immer weiter an Strahlkraft, an Klangvolumen gewonnen. Orchestral farbenreich getragen von einem Weltrang-Ensemble auf dem Gebiet der historischen  Aufführungspraxis, der Akademie für Alte Musik Berlin, werden die zwischen 16 und 27 Jahre alten Choristen so zum exponierten Vermittler von Haydns erhabener Unmittelbarkeit der musikalischen Naturschilderung, zum kraftvoll jubilierenden, dynamisch Anteil nehmenden Kommentator der Geschehnisse während der Erschaffung der Welt. Aus feinsinnig-agil ausgedeuteten Illustrationen wie dem leichten Rieseln der Schneeflocken, dem majestätischen Aufgehen der Sonne, dem glitzernden Funkeln der Sterne, dem schäumenden Wogen der Wellen, dem windenden Kriechen der Würmer, dem munteren Zwitschern der Vögel oder dem lautstarken Gebrüll des Löwen entspinnt sich auf den Originalklang-Instrumenten ein organisch-transparenter Dialog mit den Chor- und Solopartien, der an Intensität, Pathos und Eindrücklichkeit nichts zu wünschen übrig lässt.
  
Wesentlich lebt dieser besondere Schöpfungsabend auch von seinen drei überragenden Gesangssolisten: Genia Kühmeier als Erzengel Gabriel und als Eva bringt nicht nur mit ihrem wunderbar warmen, lyrischen Sopran, der zugleich über die geschmeidige Beweglichkeit für die Koloraturen verfügt, alle Töne zum Leuchten, sondern ebenso mit ihrem einfühlsamen Mienenspiel. Werner Güra verleiht durch seinen prädestiniert schlanken, elegant geführten Tenor dem Engel Uriel differenziert-lebendige Gestalt. Und der Bassbariton Matthias Winckhler schließlich gibt sowohl einen Raphael von dunkel-dramatischem Kolorit als auch einen Adam von kerniger, markiger Substanz. 
 
Eine Aufführung voll mystischer Ergriffenheit, voll atmosphärischer Glut – inklusive einer abermaligen Glanzleistung der Audi-Jugendchorakademie, die nicht zuletzt von Ehemaligen und Fans frenetisch gefeiert wird.