Ingolstadt
"Mein eigener Todfeind"

30.11.2017 | Stand 02.12.2020, 17:08 Uhr

Daniel und Simon (v. l.) gehörten gestern nach dem Vortrag am Ingolstädter Reuchlin-Gymnasium zu den Ersten, die sich Salomon Perels Buch signieren ließen. - Foto: Richter

Ingolstadt (DK) Der Jude Salomon Perel ist wegen seiner Rolle als Hitlerjunge bekannt geworden und berichtet regelmäßig über sein Leben in Angst während der Nazizeit. Heute lebt der 92-Jährige in Israel, reist aber regelmäßig nach Deutschland, um die Jugend in die Pflicht zu nehmen. "So etwas darf nie wieder passieren", sagt er.

Es urteilt sich leicht, in einem bequemen Sessel und im Nachhinein. "Das entgegne ich immer, wenn mich jemand kritisch auf meine Geschichte anspricht." Salomon "Sally" Perels lebhafte Augen blitzen, als er gestern in der Lounge eines Ingolstädter Hotels sitzt. Er ist gekommen, um am Nachmittag am Reuchlin-Gymnasium über sein Schicksal zu erzählen, abends dasselbe noch einmal in der Stadtbücherei. Es ist die schonungslose Geschichte eines Juden, der sich in höchster Not auf die andere Seite schlägt, um seine Haut zu retten. "Ich war Hitlerjunge Salomon" lautet der Titel eines Buches, in dem der heute 92-Jährige sein Leben aufgeschrieben hat.

Salomon Perel hatte sich mitunter selbst gehasst, als er damals mit Hakenkreuzaufnähern auf der Uniform und "Sieg Heil"-Rufen die Seiten wechselte, während andere Juden millionenfach starben. Auch seine Eltern und seine Schwester kamen ums Leben, seine zwei Brüder überlebten knapp. Aber hatte er eine Wahl? "Nein", sagt er im Rückblick und lässt da keine Widerrede zu. "Das Schicksal hat mich gegen meinen Willen da hineingeschleudert." Er fühlt sich daher nicht schuldig. Heute ist im nur eines wichtig: Junge Menschen vor Fanatismus zu warnen und sie in die Pflicht zu nehmen, Entwicklungen wie zur Nazizeit nicht mehr zu dulden.

Perel redet nicht um den heißen Brei herum, wenn es um seine Person geht. Darüber, wie er in totaler Selbstverleugnung seinen Glauben bestritt und sich so vor der Erschießung rettete. Im niedersächsischen Peine geboren, war er 1935 mit Vater, Mutter und den Geschwistern nach Polen geflüchtet, wo die Familie sich trennt, als deutsche Truppen einfallen. Die Eltern schicken die Buben in Richtung Russland, in der Hoffnung, sie dort in Sicherheit zu wissen. Die letzten Worte des Vaters ("Bleibe immer Jude, vergiss nie, wer du bist.") und die seiner Mutter ("Geh - du sollst leben!") begleiten Salomon in den Jahren danach. Die Brüder werden getrennt, Salomon landet in einem Waisenhaus in Grodno.

Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion macht Perel sich mit anderen erneut auf die Flucht. Weit kommt er nicht, Wehrmachtsoldaten greifen die Gruppe auf. "Wer Jude war, ist gleich nebenan im Wald von der SS erschossen worden", erzählt der heute 92-Jährige. Es ist der Tag, an dem er vor einer schicksalhaften Entscheidung steht. Soll er sterben, weil er auf die Worte des Vaters hört und bleibt, was er ist: Jude? Oder folgt er der Mutter, die ihn am Leben sehen will? "Ihre Worte waren für mich wie ein Auftrag", erinnert sich Salomon Perel. Nein, er will nicht sterben, und Lügen seien erlaubt, wenn es um den Selbsterhalt geht. Also vollzieht er den Wandel zum späteren Hitlerjungen, obwohl die Angst ihn fast umbringt. "Der Verstand war schon weg, aber der Instinkt hat noch funktioniert."

Der damals 16-Jährige entledigt sich aller Stücke, die ihn als Juden enttarnen könnten, gibt sich bei den Soldaten als Volksdeutscher Josef Perjell aus - und sie nehmen es ihm ab! Er arbeitet, da er sehr gut Russisch spricht, fortan als Dolmetscher an der Front. Noch im selben Jahr schicken sie den "Jupp", wie die Deutschen den Jugendlichen nennen, in ein Internat der Hitler-Jugend (HJ) nach Braunschweig. Hier mutiert der Jude vollends zum Jung-Nazi. "Das Recht auf Leben verdrängt alle moralischen Gebote", sagt er.

Salomon Perel schont sich nicht, wenn er von dieser Zeit erzählt. "Ich bin in die Haut des Feindes geschlüpft und war plötzlich mein eigener Todfeind." Er trägt HJ-Uniform gespickt mit Hakenkreuzabzeichen, ruft wie die anderen "Heil Hitler" oder "Sieg Heil". "Vier Jahre lang lebte ich im Bösen, es waren vier Ewigkeiten. Ich habe sogar einen Eid auf Adolf Hitler geschworen, aber das war reiner Überlebenswille."

Die Nazis vergiften sein Gehirn, wie er es nennt; nach einiger Zeit denkt er so verblendet wie viele andere im Land. "Ich fühlte mit ihnen, wollte den Endsieg und war traurig, wenn es Rückschläge an der Front gab." Salomon lebt den "Jupp" bis zur völligen Selbstaufgabe. Nur abends, wenn er wach im Bett liegt, meldet sich der Jude in ihm. Laut und voller Angst. Wird er morgen noch leben? Oder fliegt er auf, weil einer im Waschraum sieht, dass er beschnitten ist, wie schon passiert? Nur dass derjenige, ein Sanitätsunteroffizier, ihn nicht verriet.

Salomon Perel überlebt, emigriert nach Israel und wohnt nun bei Tel Aviv. Mitunter meldet sich noch immer der "Jupp" in ihm zu Wort, bis heute. 40 Jahre hat er gebraucht, seine Geschichte aufzuarbeiten, bevor er eine Autobiografie veröffentlicht. Regelmäßig kommt er in sein Geburtsland zurück, um die Jugend in die Pflicht zu nehmen. Er hat einen guten Draht zu jungen Menschen, erzählt eloquent und mit Witz. Aber die Botschaft ist glasklar: "Es gibt keine Erbschuld", sagt der Jude Perel. "Schuldig macht ihr euch nur, wenn ihr so etwas in Deutschland wieder zulasst."