"Man könnte eventuell der Nächste sein"

Hubert Haderthauer, Medizinaldirektor und Spezialist für forensische Psychiatrie, erläutert die Faszination von Verbrechen vor der Haustür

02.10.2019 | Stand 02.12.2020, 12:55 Uhr
  −Foto: Privat

Herr Haderthauer, die Römer ergötzten sich daran, wenn Gladiatoren sich zerfleischten, später strömten die Menschen zu Hexenverbrennungen und Hinrichtungen, und heute haben Filme und Romane über Mörder Konjunktur - was macht denn die Faszination solcher Grausamkeiten aus?

 


Hubert Haderthauer: Die Antwort oder eine denkbare Erklärung liegt wohl im Begriff des "wohligen Grauens" verborgen. Aus einer gesicherten Entfernung - noch dazu in einer größeren Gruppe, heutzutage auch als Zuschauer im Gerichtssaal - lässt der Schrecken, das Grauen uns schaudern. Man erlebt beziehungsweise durchlebt den Schrecken eines Unglücklichen. Im Kontext mit gefühlter Sicherheit steigert sich das Entsetzen vor dem Unheimlichen zur Faszination - wohlgemerkt nicht Bewunderung - und erzeugt aus der eigenen Fantasie heraus fiktive Bilder einer Bedrohung, der wir dann "Gott sei Dank" nicht real ausgesetzt sind.

Also nicht bloß Sensationslust?

Haderthauer: Dies hat nichts mit Sensationslust zu tun. Es ist eher die Lust an der Angst, da sie, wie einige andere Emotionen, bei Menschen eine Stressreaktion auslöst, die über eine Hormonausschüttung von Adrenalin die Herzfrequenz erhöht, auch den Blutzuckerspiegel steigert, höchste Alarm- und Fluchtbereitschaft erzeugt und nach überstandener Situation zuletzt noch über die Ausschüttung von Endorphinen, das sind körpereigene Opiate, ein wohliges Gefühl vermittelt.

Ist der Kitzel denn noch größer, wenn es um Berichte über Verbrechen in der eigenen Region geht? Es könnte einem ja einmal selbst Ähnliches zustoßen, und vielleicht hat man das Opfer sogar noch gekannt.

Haderthauer: Durchaus. Je näher der Schrecken für uns als "Zuschauer" ist, desto schmäler ist der Grad zwischen dem Empfinden der Bedrohung und der gefühlten Sicherheit - man könnte doch eventuell der Nächste sein. Dies gilt aber praktisch nur bei Menschen in wohlhabenden, meist westlichen Ländern. In Mexiko oder Südamerika, wo exzessive Gewalt das tägliche Leben sehr stark prägt und bedroht, lesen die Menschen kaum Kriminalromane, und Krimiserien sind Quotenkiller. Die Menschen, die der ständigen realen Gewalt ausgesetzt sind, brauchen nicht diesen Wohlstandskick.

Und wie kann der Sechsfachmord von Hinterkaifeck bei Schrobenhausen nach fast 100 Jahren noch so interessieren?

Haderthauer: Das anhaltende Interesse liegt auch an dem eher mystischen und unheimlichen Tatort. Ein Einödhof zur damaligen Zeit. Eine soziale Enklave, in welcher die übliche öffentliche Kontrolle wie etwa in einer Dorfgemeinschaft nicht stattfand, eine unheimlich geheimnisvolle und beinahe stigmatisierte Lebensweise. Unsere Fantasie garniert dieses Verbrechen noch mit fiktiven Bildern, zum Beispiel mit Nebelschwaden, Dunst, unwirklicher Stille und so fort, so dass aus den von der Tat bekannten Puzzlestücken ein komplexes, beinahe reales, aber sehr fantasiebesetztes Grauen wird. Oder kurz gesagt: Da geht im Kopf das Kino ab. Foto: privat

Die Fragen stellte

Horst Richter