Einer
Machtzentren einst und jetzt

Die Journalistin Andrea Böhm ist mit einer Weltkarte aus dem 15. Jahrhundert rund um den Globus gereist

15.03.2018 | Stand 02.12.2020, 16:41 Uhr

Imposante Rundkarte: Im 15. Jahrhundert schuf sie der venezianische Mönch Fra Mauro. - Foto: Wikipedia

Einer gestandene Journalistin mit internationaler Erfahrung, Andrea Böhm, kommt die Orientierung abhanden; sie begibt sich auf eine Reise durch vier Kontinente - als Richtschnur im Gepäck hat sie eine Weltkarte aus dem 15. Jahrhundert. Mit ihrer Hilfe will sie ihr Koordinatensystem neu justieren - und ist gezwungen, ihre bisherige Sichtweise vieler Dinge zu ändern.

Denn die aus heutiger Sicht höchst fehlerhafte Karte, in der nicht einmal die Kontinente Amerika und Australien zu finden sind, verhilft zu einer völlig ungewohnten Perspektive - zumindest für einen Europäer. Ein solcher ist es gewohnt, dass sein Kontinent seit Jahrhunderten das Weltgeschehen bestimmt und nach seinen Vorstellungen formt. Doch das ändert sich, und zwar gravierend. Vieles läuft heute an Europa schlicht und einfach vorbei.

Für den Perspektivwechsel ist die Karte ideal. Gefertigt hat sie im Auftrag des portugiesischen Königs Alfons V. der venezianische Kamaldulenser-Mönch Fra Mauro zwischen 1457 und 1459 - also vor Columbus' Entdeckungen. Gleichzeitig signalisiert die Karte den Übergang zwischen Mittelalter und Neuzeit. Nicht mehr Jerusalem, wie bisher, bildet das Zentrum, sondern Asien. Außerdem ist auf der Karte, die heute in der Biblioteca Nazionale Marciana ausgestellt ist und als Reproduktion 2007 schon im Deutschen Historischen Museum Berlin zu sehen war, ein immenses Wissen der damaligen Zeit festgehalten. Zahlreiche Texte hat Fra Mauro vermerkt. Sein Wissen speiste sich aus den Berichten zahlreicher Reisenden, die aus Venedig stammten oder dort Station machten.

Die Rundkarte (fast zwei Meter im Durchmesser) markiert gleichzeitig den Beginn europäischer Expansion: nach Afrika, nach Asien, nach Indien und Amerika. Doch dorthin lenkt Andrea Böhm ihre Schritte nicht. Ihre Reise beginnt logischerweise in Venedig und führt weiter nach Afrika, China, den Irak, den Nahen Osten und schließlich nach "Nowa Amerika", einem Gebiet an der deutsch-polnischen Grenze, durch das Oder und Neiße fließen. Stets tritt sie in einen Monolog mit Fra Mauro, lobt ihn, kritisiert ihn und weist auf die Änderungen hin, die seit seiner Zeit eingetreten sind. Überall trifft sie interessante Leute, die viel zu berichten haben. Die Autorin begibt sich nach Somalia, das vor Gewalt brodelt, in dem Menschen Überlebenskünstler sein müssen, und das auf eine bessere Zukunft hofft. Anders im nicht anerkannten Staat "Somaliland": Hier scheint das Multikulti der Religionen zu funktionieren, herrscht Frieden und einigermaßen Ordnung. Hauptsächlich, weil dieser Teil Afrikas von westlicher Entwicklungshilfe verschont wird. Andrea Böhm analysiert das Verhältnis zwischen China und Europa, das brutale Vorgehen der Europäer beim "Opiumkrieg" und die damit verbundene Demütigung des Reichs der Mitte, die auch im modernen kommunistischen China nachwirkt. Sie besucht neue Handelszentren am Perlfluss, die von agilen Ausländern bevölkert sind, und stellt fest, dass es hier nur ums Geschäft geht, nicht um Integration.

Die Autorin redet mit einem Umweltschützer bei Bagdad und besucht den "Garten Eden". Schließlich sucht sie den Nahen Osten auf, den sie selbst bestens kennt: Sie lebt in Beirut. Auch dabei räumt sie mit Vorurteilen auf und taucht tief in die Vergangenheit ein, um die Gegenwart zu beleuchten. Die Reise endet in "Nowa Amerika", das heute nicht mehr existiert. Friedrich der Große versuchte einst, hier Kolonisten zur Urbarmachung des Oder- und Weichselbruchs zu gewinnen. Wer Böhm auf ihrer Reise folgt, wird ungewöhnliche Einblicke bekommen und sein eigenes Weltbild wahrscheinlich korrigieren müssen. ‹ŒDK

Andrea Böhm: Das Ende der westlichen Weltordnung - Eine Erkundung auf vier Kontinenten, Pantheon-Verlag, 272 Seiten, 17 Euro.