Neuburg
Lesestunde aus dem "Protokoll der Geburt des Rationalismus"

12.11.2019 | Stand 02.12.2020, 12:38 Uhr
Durs Grünbein las im Stadttheater Neuburg aus seinem Werk über Descartes. −Foto: Heumann

Neuburg (lm) Wenn Philosophie und Poesie so geistreich wie fabulös sich treffen, kommt zweierlei heraus: ein wunderbar leichter, von äolischen Schwingen getragener Abend, ein den Moment auskostendes wie eindringendes Wort - und doch zugleich ein alles andere als leicht zu verdauender Brocken.

Zum literarisch inspirierten Finale der hochkarätig internationalen René-Descartes-Tagung in Neuburg las Durs Grünbein aus seinem 2003 erschienenen Buch "Vom Schnee oder Descartes in Deutschland", den Französisch-Part übernahm Claire Gantet.

Gefesselt hängt man an des Dichters Lippen, lässt sich ein auf Durs Grünbein mäanderndes Gedankenspiel und hat doch seine liebe Not, stets und auf wenigstens verwandter Geisteshöhe Folge leisten zu können. Zum Nachlesen gab es wenigstens die meisten Texte gratis mit. Ist schon das zu verhandelnde Sujet nicht das leichteste, schafft Grünbein in seiner Verssprache eine Konzentration der Gedankendichte. Die bildreiche Ist-Beschreibung mit aphoristischer Laune wird zur philosophischen Grundsatzfrage und steigert , wenn man so will, Sein und Nicht-Sein.

Dieser Zweifel ist ja der Ausgangspunkt für René Descartes ganzes Denken. Am Ende steht jener berühmte Satz vom "cogito ergo sum", dass eben der Mensch, der all den Zweifel bedenkt, gerade deshalb, indem er dies tut, existieren muss.

Georg Büchner-Preisträger Durs Grünbein gehört zu den führenden Lyrikern und Essayisten der Gegenwart. Immer wieder interessieren ihn philosophische und auch naturwissenschaftliche Fragen. Parallelen zu René Descartes sind da vorgezeichnet, der in gleich glasklarer Weise, wie er seine philosophischen Gedanken formulierte, den subtilsten Naturbeobachtungen Ausdruck verlieh, ja seine Befindlichkeiten hingebungsvoll zum Ausgangspunkt tiefschürfender Ergründungen nahm.

Der durch den Schnee erzwungene Aufenthalt, Descartes, der die Kälte hasste, das Arbeiten jetzt in aller Abgeschiedenheit, der Schnee, der kommend und vergehend die Sicht auf die Dinge zweifach ändert, in dessen Glanz Dinge sich plötzlich spiegeln - all diese Gedanken spinnt Durs Grünbein in weit über 2000 der Jambenform - nicht immer so streng - gehorchenden Versen zu einem Werk fort, das sich Gattungsbegriffen entzieht und das, sagt der Autor selbst, "nur auf den ersten Blick ein Stück Poesie" ist.

Aber was fasziniert Durs Grünbein an dem vor 400 Jahren lebenden Philosophen, der mitten in den Schrecknissen des 30-jährigen Krieges nach der Existenz des Menschen und in gewisser Weise auch der Gottes fragt? Die Antwort liefert der Autor selbst: "Warum Descartes? Weil er der Initiator neuzeitlicher Erkenntnisphilosophie. " Und mit ihm fange in Europa ein neues Zeitalter an. Im Denken kreuzten sich Deduktion, das logische Ableiten, und Intuition, "die wundersam unmittelbare Einsicht ins Ganze. "

Hier treffen sich für Durs Grünbein Poesie und Philosophie, sein Buch sei "das Protokoll der Geburt des Rationalismus aus dem Geist des Winters", lakonisch fügt Grünbein hinzu, "weiter nichts als eine Schneeballschlacht in Versen. " Nur gut, dass begleitend dazu die Musik von Musica Aliter ungleich wärmer machte.