Schrobenhausen
Kolumne: Helmut Zöpfl und der pfeifende Supersimulator

Der bekannte Schriftsteller schreibt für unsere Zeitung

08.10.2020 | Stand 02.12.2020, 10:24 Uhr
Helmut Zöpfl. −Foto: SZ

Mit großen Interesse habe ich vor einer Weile in der Zeitung gelesen, dass der FC Bayern auf seinem vor allem der Nachwuchsförderung dienenden Campus ein Skillslab installiert. Hinter diesem Begriff verbirgt sich, wie ich lese, ein spezieller Raum, der durch Kinobeamer in ein Ministadion verwandelt wird. Dabei wird mir allmählich klar, warum aus mir kein erfolgreicher Fußballer werden konnte.

Der Hersteller, so heißt es, bezeichnet es als das weltbeste Fußballtrainingssystem. Man kann damit üben, was jeder Spitzenspieler können sollte: Kopfball, Volleyschuss, Doppelpass, Torabschluss aus dem Rückraum in fünf verschiedenen Schwierigkeitsstufen.

Nach einem Countdown geht es los: Ballmaschinen, die bis zu 130 Kilometer pro Stunde erreichen, alles wird datenmäßig erfasst. Dahinter steckt die Idee, "mit hochmoderner Mess-Sensorik und Algorithmen Leistungsparameter zu bewerten" und die Entwicklung vorherzusagen zu können.

Spätestens jetzt tauchen Erinnerungsbilder an meine kärgliche Wiesenfußballertätigkeit auf. Unser Campus war der Münchner Eichendorff-Platz, an dessen Ende noch ein kleiner Bombentrichter an den erst jüngst geendetem zweiten Weltkrieg erinnerte. Das Wichtigste war mein uralter Lederball, den ich - als mir das Christkindl statt des ersehnten Balles, der nirgends aufzutreiben war, Schraubenschlittschuhe gebracht hatte - gegen dieselben in einem Tauschgeschäft in Erding eingetauscht hatte. Allerdings musste ich noch einige Monate warten, bis mir mein Vater durch einen geglückten Tauschhandel die dazugehörige Blasn, die schon mehrfach geflickt war, freudestrahlend überreichte.

Dieses alte Leder war der Schlüssel für eine sofortige Integration der Eichendorffer Fußball-Buben in die Gemeinschaft. Sehnsüchtig wurde ich, wenn sich die Erledigung der Hausaufgaben der 3. Klasse ein bisserl länger hinzogen, erwartet. Und dann ging es los. Wir waren der heute so bedeutsamen Inklusion einiges voraus, denn die Spielerschar setzte sich aus recht unterschiedlichen Akteuren zusammen. Die Altersgruppen reichten von 6 bis 13. Auch Buben mir diversen körperlichen Defiziten durften alle mitspielen. Eine besondere Rolle spielte der Pauli, der einen kürzeren rechten Fuß hatte. Wegen seiner eingeschränkten Lauffähigkeit wurde Torhüters, er war glänzend.

Ich selber musste damals wegen eines doppelseitigen Leistenbruches ein Bruchband tragen und wurde ebenfalls als Torwart aufgestellt. An der Tagesordnung waren aufgeschlagene Knie, die kaum mit einer Verkrustung versehen, sofort wieder aufplatzten. Die Spielerkleidung bestand aus kurzen Hosen und irgendwelchen Leiberln, die weder die Vereinsfarbe eines Bundesligisten, noch Namen und Nummer von Spielern trugen. Aber fast jeder trug den Namen eines Helden im Herzen und fühlte sich als Jackl Streile oder Wiggerl Zausinger. Die eine Mannschaft musste eh oben ohne spielen, um sich von der Oben-mit-Mannschaft abzuheben.

Als Schuhwerk dienten selten Turnschuhe, eher ausrangierten Stiefel. Eines fehlte weitestgehend: Fußballschuhe. Eine sehr verbreitete Fußbekleidung war barfuß, also unten ohne, und zumeist galt das aus Fairnessgründen für alle.

Als Torpfosten fungierten die abgelegten Hemden oder Schuhe oder zwei mehr oder weniger große Stecken. Da fehlte natürlich einiges, und es konnte sein, dass der Ball nicht eindeutig neben der Begrenzung ins Tor gelangt war, sondern die virtuellen Torpfosten gestreift hatte. Noch problematischer war die Höhe. Und so entsponnen sich unter dem Spiel immer wieder zahlreiche Diskussionen, die um die Frage kreisten, ob "er" drin war oder die Größe des jeweiligen Torwarts als Maßstab ins Feld geführt wurde mit: "Also, ,der' war vui z' hoch", "den konn er doch nia habn", oder "der is doch net amal gsprungen". Mangels einer Torkamera entschied man sich schließlich für eine Lösung, die ein wenig an das Gottesurteil der Indianer bei Karl May erinnerte (wo der Kampf der zwei Stammesvertreter letztlich entschied): Elfmeter.

Elfmeter gab es auch häufig anstelle nicht geschossener Ecken mit dem obligatorischen Spruch: "Drei Ecken ein Elfer". Die Länge eines Fußball-Matches wurde in der Regel nicht durch die Uhr, sondern Anzahl der Tore bestimmt, wo man entweder bis fünf oder zehn spielte. Es kam aber auch vor, dass gar nicht so lange gespielt werden konnte, wenn etwa der Ballbesitzer zum Abendessen gerufen wurde oder endlich seine Hausaufgaben fertig machen musste.

Damit war aber der Fußballnachmittag noch lange nicht beendet. Für die Schar der Zurückgebliebenen gab es viele Weiterspielmöglichkeiten, sofern ein ballähnlicher Gegenstand zur Verfügung stand. Das Spiel auf ein Tor, zum Beispiel. Also zwei Gegenspieler und ein Torwart. Oder Sitzfußball. Oder Ausscheiderl. Oder Köpfeln. Mit einer unglaublichen Fantasie wurden für dieses jeweilige Spiel Regeln entwickelt, die sich der neuen Gegebenheit anpassten.

Natürlich lief der Spielbetrieb komplett ohne Trainer ab. Seine Fähigkeiten erwarb man sich, indem man sich von den Älteren und Besseren einen Trick abschaute. Es gab auch kein Spielsystem, wohl aber verschiedenste Spieltypen. Geschätzt waren die sogenannten Techniker. Einige davon mussten aber auch immer wieder den Tadel der Mitspieler hören: "Jetzt spiel doch amal ab, du Dribbel-Hengst!"

Eine Schlüsselstellung nahm natürlich "die Wahl" ein. Die zwei Besten veranstalteten vor Beginn des Spieles eine sogenannte Mandlwahl. Abwechselnd durften sie sich aus dem ganzen Spielerkader immer einen Mitspieler aussuchen. Wer zuerst wählen durfte, hatte also häufig einen großen Vorteil. Ich habe diese Wahlform immer dick gehabt, weil ich wegen meines Bruchbandes leicht gehemmt war und nie zu den bevorzugten Gewählten gehörte.

Vielleicht ist dem Leser dieser Zeilen nun deutlich geworden, unter welch geradezu primitiven, wissenschaftlich absolut unreflektierten Gegebenheiten bei mir und meinen Freunden viele Jahre unsere fußballerischen Fähigkeiten unausgebildet liegenbleiben sind. Was wäre aus mir und aus meinen Klassenkameraden, dem Gerhofer Fredi oder dem König Max, alles geworden, wenn er auf dem Eichendorff-Platz ein Skilllab gehabt hätte!

Mit einen Blick auf die Uhr werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Ich muss mich beeilen. Heute treffen sich die ehemaligen Wiesnfußballer des FC Eichendorff wieder zum monatlichen Stammtisch in der Gaststätte Wöllinger. Wir alten Knaben sind noch immer eine wunderbare Freundesschar. Wir feiern, aber auch trauern gemeinsam. Jeder ist für den anderen da, wenn er gebraucht wird.

Da gilt das schöne Wort: Ein Freund ist einer, der dich mag, obwohl er dich kennt. Ob es wohl einen solchen Freundeskreis gäbe, wenn mein wichtigster Partner seinerzeit das wirkungsvollste Trainingsgerät aller Zeiten gewesen wäre?

SZ