Ingolstadt - Der Verlust eines Menschen ist oft ein einschneidendes Erlebnis.
Die Psychologin Anna Vogel therapiert Menschen, die den Tod eines Angehörigen ohne Hilfe nicht bewältigen können. Für ihre Dissertation erhielt sie erst kürzlich den Kulturpreis Bayern. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Lehrstuhls für klinische und biologische Psychologie an der Katholischen Universität und stellvertretende Leiterin der psychotherapeutischen Hochschulambulanz in Ingolstadt.
Frau Vogel, Sie beschäftigen sich unter anderem mit der anhaltenden Trauerstörung. Können Sie zu Beginn erklären, was das genau ist?
Anna Vogel: Das ist eine Form von Trauer, die ins Pathologische, also ins Krankhafte geht. Es geht um Betroffene, die eine wichtige Person verloren haben und sich nicht von dem Verlust erholen können. Es gibt verschiedene Kriterien, anhand derer wir entscheiden können, ob es ein normaler Trauerverlauf ist oder nicht. Manchmal benötigen Menschen eine Psychotherapie, da sie nach dem Verlust alleine aus dem Tal nicht mehr hinauskommen.
Welche Kriterien sind das?
Vogel: Da spielt zum einen die Dauer eine Rolle. Hält die Trauer mindestens sechs Monate an und wird nicht besser, ist das ein Kriterium. Außerdem kann täglich eine Form von Trennungsschmerz vorliegen. Beispielsweise eine starke Sehnsucht oder starke Gefühle, wenn an die verstorbene Person gedacht wird. Es kann auch sein, dass der Betroffene sich immer wieder mit der verstorbenen Person beschäftigt. Es werden bestimmte Situationen durchdacht - oder die letzte Verabschiedungssituation ist so präsent, dass sich nicht mehr auf andere Dinge konzentriert werden kann. Es kann aber auch Wut, Verbitterung oder ein Betäubtheitsgefühl entstehen. Das bedeutet, dass eigentlich gar kein Gefühl mehr zugänglich ist. Es fällt den Betroffenen dann schwer, sich über die schönen Dinge zu freuen, die doch früher Spaß gemacht hatten.
Ist dann immer eine Therapie ratsam?
Vogel: Leben die Betroffenen trotz dieser Beschwerden normal weiter, werden soziale Kontakte gepflegt und wird gearbeitet, dann sprechen wir nicht von einer psychischen Störung. Liegt allerdings eine Beeinträchtigung im Alltag vor und leidet die Person sehr - dann sprechen wir von einem Beschwerdebild und würden die Diagnose der anhaltenden Trauerstörung vergeben.
Ist es schwierig, zwischen einer Depression und einer Trauerstörung zu unterscheiden?
Vogel: Ja, das ist es. Manche Beschwerden sind gleich. Wir machen aber vor Beginn der Therapie eine ausführliche Diagnostik. Es gibt typische Beschwerden bei einer Depression, wie Schlaf- und Konzentrationsstörungen oder Suizidgedanken, die bei einer anhaltenden Trauerstörung nicht zu erwarten sind. Es kann auch vorkommen, dass jemand schon länger eine Trauerstörung hat und zum Beispiel durch ein Problem in der Arbeit zusätzlich eine depressive Symptomatik entwickelt. Wir schauen genau, wo wir in der Therapie ansetzen.
Wie lange bieten Sie diese spezielle Art der Psychotherapie bei Trauernden schon an?
Vogel: Im Rahmen einer Studie hier in Ingolstadt seit 2017. Es gab aber auch schon eine Vorläufer-Studie. Wir bieten zwei verschiedene Programme an. Wir können die Trauer nie komplett wegbringen. Wir können den Verlust nicht rückgängig machen. Aber es geht darum, dass die Betroffenen - trotz der Trauer - ihr Leben ohne den Verstorbenen weiterleben können. Nicht nur stillstehen und abwarten, dass die Zeit vergeht. Sondern wieder weiterleben. Das Leben in den Griff bekommen.
Wer kann zu Ihnen kommen?
Vogel: Insgesamt bieten wir im Rahmen dieser Studie die Therapie für Erwachsene an - zwischen 18 und 75 Jahren. Die anhaltende Trauerstörung sollte im Vordergrund stehen, auch wenn andere psychische Probleme vorhanden sind. Bestimmte Medikamente dürfen parallel zur Therapie eingenommen werden, wie beispielsweise Antidepressiva. Aber wichtig ist, dass die Einnahme stabil eingestellt ist. So sehen wir, wie die Therapie wirkt. Wenn sich ständig die Dosis des Medikaments ändert und auf die Psyche wirkt, kann nicht beurteilt werden, welche Wirkung die Therapie hat.
Wie viele Menschen haben Sie bereits behandelt?
Vogel: Insgesamt sind es etwa 65 Patienten, die eine Therapie bereits durchlaufen haben oder aktuell noch in Behandlung sind. Wir haben auch außerhalb der Studie noch Behandlungsplätze. Ist die Trauer zwar ein Thema, aber stehen andere psychische Beschwerden mehr im Vordergrund, können wir den Menschen, wenn Kapazitäten da sind, auch einen Platz in unserer Ambulanz anbieten.
Wie lange dauert eine Therapie bei einer anhaltenden Trauerstörung?
Vogel: Das ist in der Studie festgelegt, da wir eine Vergleichbarkeit erreichen wollen. Es sind zwischen 20 und 24 Sitzungen innerhalb eines halben Jahres. Die Betroffenen kommen wöchentlich zu uns zum Einzelgespräch.
Haben Sie grundsätzliche Ratschläge für den Umgang mit Trauer?
Vogel: Generell ist die Trauer nach einem Verlust normal. Deshalb beginnen wir frühestens sechs Monate nach dem Verlust mit der Therapie. Es gibt keine richtigen Normen. Oft werden schnell Ratschläge erteilt, was richtig beim Trauern ist und was nicht. Jedoch ist Trauer unglaublich individuell. Da gibt es keine richtige oder falsche Form. Gut ist das, was einem gut tut. Manchmal hilft es, rauszugehen und sich abzulenken. Dann ist das in Ordnung. Andere ziehen sich lieber zurück und vermeiden soziale Kontakte für eine gewisse Zeit. Auch das ist in Ordnung. Generell sollten sich Betroffene nicht zu viele Sorgen über die psychischen Auswirkungen machen. Wir haben gute psychische Selbstheilungskräfte in uns. Wir sind meist so gut ausgestattet, dass wir uns nach einem Verlust in der Form erholen können, dass ein Leben danach möglich ist.
Wie viele Betroffene können sich nicht selbstständig von einem Verlust erholen?
Vogel: Das ist ein kleiner Prozentsatz. Wir sprechen von zwei bis fünf Prozent, die sich nach so einem Verlust nicht erholen können. Da macht es auch absolut Sinn, sich therapeutische Hilfe zu nehmen. Alles Mögliche kann gut tun: Über den Verstorbenen mit Freunden sprechen, Trauerbegleitungs- oder Selbsthilfeangebote. Da gibt es eine große Landschaft. Das kann helfen, den Verlust zu verarbeiten, ohne dabei ins Pathologische gehen zu müssen. Meldet sich jemand direkt nach einem Todesfall, dann ist das noch nicht unser Job. Wir laden trotzdem gerne mal zu einem klärenden Gespräch ein und verweisen dann weiter. Wir arbeiten viel mit dem Hospizverein zusammen. Der ist dann die richtige Ansprechstelle nach einem direkten akuten Verlust.
Sehen Sie einen Zusammenhang mit der Anzahl der Betroffenen, die zu Ihnen kommen, und der Pandemie?
Vogel: Das werden wir uns natürlich in den Auswertungen noch einmal genauer anschauen - aber mein persönlicher Eindruck ist: Ja. Corona spielt in vielen Aspekten eine Rolle. Zum einen kommt es oft zu plötzlichen Todesfällen, die so nicht erwartet wurden. Auch die Umstände bei den Todesfällen ist ein Thema. Wenn beispielsweise aufgrund von Quarantänebeschränkungen keine Krankenhausbesuche möglich waren, oder wenn der Betroffene im Todesmoment der verstorbenen Person nicht beistehen konnte - das führt oft zu Grübelschleifen. Außerdem konnten Trauerfeiern in der Pandemie oft nicht so stattfinden, wie es für die Betroffenen wichtig gewesen wäre.
Wie lange muss ein Trauernder warten, bis er einen Therapieplatz erhält?
Vogel: Wir haben bei uns die besondere Situation, im Rahmen des Studienprojekts die Trauertherapie anbieten zu können. Deshalb haben wir fast keine Wartezeit. Mit zwei bis drei Wochen, bis wir den Start bei der Therapeutin gewährleisten können, muss gerechnet werden. Wir haben gerade wirklich gute Bedingungen. Man hört oft von viel längeren Wartezeiten. Menschen zögern es oftmals lange hinaus, sich Hilfe zu suchen. Wenn man dann hört: "Tut mir leid, es ist erst in sechs Monaten etwas frei", dann finde ich das schrecklich. Wenn ich mir ein Bein breche, dann warte ich ja auch keine sechs Monate auf eine ärztliche Behandlung.
Ganz aktuell - herzlichen Glückwunsch - Sie haben den Kulturpreis Bayern für Ihre Dissertation erhalten. Was war Ihr Thema?
Vogel: Es ging dabei nicht so sehr um die Trauer, sondern eher um die posttraumatische Belastungsstörung bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Das ist der Bereich, aus dem ich quasi komme und wohin ich bestimmt auch wieder zurückgehen werde. Aber tatsächlich gibt es viele Überschneidungspunkte, gerade bei traumatischen Verlusten. Da macht es Sinn, in beiden Bereichen zu Hause zu sein.
DK
Das Gespräch führte Miriam Werner.
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