Ingolstadt
Kein Lieblingssänger, aber eine Lieblingstonart

Regina Heuler ist Autistin – sie verfügt über das absolute Gehör und spielt Keyboard in der Auti-Group

07.08.2014 | Stand 02.12.2020, 22:22 Uhr

Hier fühlt sie sich wohl: In der Auti-Group, einer Inklusionsband, spielt Regina Heuler Keyboard. - Foto: oh

Ingolstadt (DK) Ihre Ururoma war Konzertsängerin, der Cousin des Uropas sang in der Oper. Die Musik wurde ihr also sozusagen in die Wiege gelegt. Mit zwei Jahren hat sie die Klaviertasten entdeckt, plötzlich spielte sie „Alle meine Entchen“, erzählt ihre Mutter Ute Heuler. „Rein nach Gehör.“ Mit drei oder vier hatte Regina auf diese Weise „ein unheimliches Repertoire“. Was zu dieser Zeit noch niemand wusste: Regina (kleines Foto) ist Autistin.

Heute ist sie 26, sieht aber – was bei Autisten häufig vorkommt – sehr viel jünger aus. Regina ist vom Klavier aufs Keyboard umgestiegen, ist tagsüber in einer Behindertenwerkstatt in Hohenwart und abends in einer betreuten Wohngruppe in Schrobenhausen. Und sie ist Mitglied der Auti-Group, einer Inklusionsband von Musikern mit und ohne Autismus-Störungen.

„Autisten sind Menschen mit einer Wahrnehmungsverarbeitungsstörung. Sie hören wie wir, sie haben die gleichen Sinnesorgane. Nur ihr Gehirn verarbeitet alles anders“, erklärt Ute Heuler. Schätzungsweise zwischen 0,7 und einem Prozent der Bevölkerung sind davon betroffen. Die Wahl-Eitensheimerin hat im Jahr 2000 die Selbsthilfegruppe Autismus Ingolstadt und Region gegründet. Ihr Traum wäre ein Autismus-Therapiezentrum in Ingolstadt.

Autisten haben einen Blick fürs Detail und fast immer eine besondere Begabung. Viele Persönlichkeiten aus Literatur, Film und Wissenschaft hatten das Asperger Syndrom, jene Form des Autismus, die oft mit einer Hochbegabung einhergeht. Charles Darwin etwa, der wegen seiner Beiträge zur Evolutionstheorie als einer der bedeutendsten Naturwissenschaftler gilt. Aber auch Krimiautorin Patricia Highsmith, der Philosoph Bertrand Russel oder die für ihre Arbeit mit wilden Tieren in Afrika weltberühmte Österreicherin Joy Adamson. Auch Albert Einstein und Sir Isaac Newton sollen Autisten gewesen sein. „Der Preis, den Newton für seinen überragenden Intellekt bezahlen musste, war seine Unfähigkeit für Freundschaft, Vaterschaft und viele andere begehrenswerte Dinge“, sagte der britische Schriftsteller Aldous Huxley einmal über Newton.

Mit solchen Genies will sich Regina nicht vergleichen. Sie hat auch nicht das Asperger Syndrom, sondern eine andere Form des Autismus. Doch auch sie hat eine große Begabung – sie verfügt über das absolute Gehör. Sie kennt sich aus mit Barockmusik und Jazz. Doch am liebsten hat sie Pop, Rock, Country, Hip Hop oder Dance. Klassik? Regina schüttelt den Kopf. Einen Lieblingssänger oder eine Lieblingsgruppe hat sie nicht. Dafür aber „eine Lieblingstonart“: „G und Fis“, wie sie unmissverständlich erklärt. Diese beiden Tonarten empfindet sie als besonders angenehm. „Aber bei der Auti-Group, da spiel’ ich alles.“ Im Gegensatz zu den meisten anderen Autisten hat Regina keine Rückzugstendenz, „sondern eher das Gegenteil“, sagt ihre Mutter.

Regina war eine Frühgeburt. Sie kam in der 28. Schwangerschaftswoche zur Welt. Als sie als Winzling im Brutkasten lag, hat ihr die Mutter oft vorgesungen. „Da war sie dann immer ganz ruhig.“ Ein paar Jahre später merkten die Eltern, dass „irgendwas“ an ihrer Tochter „seltsam war“. Deshalb kam Regina nicht in eine Regelschule, sondern ins Förderzentrum der Caritas am Irschenberg. Eine Lehrerin vermutete Autismus. Reginas Eltern fuhren mit ihr in die Heckscherklinik nach München, einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Hier wurde die Störung diagnostiziert.

Heute lebt Regina ein – soweit es ihr möglich ist – einigermaßen selbstständiges Leben. Sie fährt alleine Zug, hat allerdings immer das Handy griffbereit, mit dem sie im Notfall ihre Mutter erreichen kann. Solche Notfälle gab es öfter, als in Ingolstadt der Hauptbahnhof umgebaut wurde und die Züge plötzlich von anderen Gleisen aus abfuhren. Statt in den Zug, der sie zu ihren Eltern nach Eitensheim bringt, setzte sich Regina einmal in den Zug nach Donauwörth. Der Schaffner sagte ihr, sie müsse in Neuburg umsteigen. Regina rief über Handy ihre Mutter an. Sie stieg aus und fuhr mit dem nächsten Zug zurück nach Ingolstadt, wo sie von ihrer Mutter auf dem Bahnhof abgeholt wurde. Für einen normalen Menschen ist so ein Malheur nur ärgerlich. Für einen Autisten ist es der reinste Horror.