Jedes Wort ist ein Bild

20.09.2010 | Stand 03.12.2020, 3:40 Uhr

München (DK) "In der arabischen Kultur ist jedes Wort ein Bild", resümiert Chris Dercon, scheidender Direktor im Münchner Haus der Kunst. Und tatsächlich ist die Kalligrafie ein roter Faden durch eine Schau, die an die legendäre Ausstellung "Meisterwerke muhammedanischer Kunst" vor hundert Jahren anknüpft.

Rund 3600 orientalische Exponate wurden 1910 im Ausstellungspark bei der Bavaria gezeigt – eine Mammutschau aus Anlass von hundert Jahren Oktoberfest. Eine kleine Auswahl, dreißig sogenannte "Ikonen" von damals, sind nun im Haus der Kunst zum Wiesn-Jubiläum zu sehen. Die Kannen und Schalen, Intarsien-Kästchen und Teppiche, Fliesen und Miniaturmalereien könnten in dem monumentalen Mittelsaal des nationalsozialistischen Baus verloren gehen – wäre da nicht eine geniale Ausstellungsarchitektur. Halbtransparente schwarze Webstoffe unterteilen den Raum in dreieckige Kojen, in denen die Leihgaben aus Sankt-Petersburg, London, Cambridge und Berlin für sich wirken können. Darüber, in der Höhe des Raumes, hängen 99 naturweiße Banner. Den ägyptischen Baumwollstoff hat der in Paris lebende algerische Künstler Rachid Koraïchi mit schwarzen Symbolen und Schriftzeichen bestickt, die an 14 islamische Mystiker erinnern – darunter auch an den berühmten Sufi-Meister Rumi.
 

An dessen Grab im türkischen Konya fand die libanesische Künstlerin Bahia Shehab ein besonders kunstvoll gestaltetes Zeichen für "Nicht" oder "Nein" – arabisch "la", das aussieht wie ein filigraner Silberohrring. Tausend dieser Zeichen, mit denen das islamische Glaubensbekenntnis beginnt, hat die in Kairo lebende Shehab gesammelt, vom Iran bis zur spanischen Alhambra, auf Manuskripten und in Stein gemeißelt. Die Zeichen füllen nun einen ganzen Schriftbild-Katalog und bilden zugleich einen Vorhang aus transparenten Plättchen vor der Wand des "Frauenraumes". In diesem Raum 3 zeigen weitere Künstlerinnen Schriftbilder und ein Video mit einer Modenschau, in der ein Model in die fließende Bewegung arabischer Lettern eintaucht.

Und damit tritt das immanente, schwarz-weiße Thema dieser Schau zu Tage: die Kalligrafie. Die Inschrift einer emaillierten Kupferschale aus dem Byzanz des 12. Jahrhunderts und das meterhohe Wandbild des 2004 in Amsterdam gegründeten Zentrums für arabische Typografie setzen sich gleichermaßen mit der Frage auseinander, die der Ausstellungstitel umschreibt: "Die Zukunft der Tradition – die Tradition der Zukunft". Denn die arabische Schrift hält an Regeln fest, die der legendäre Kalligraf Ibn Muqla im 10. Jahrhundert entwickelte. "Jede Innovation ist naturgemäß ein Regelverstoß . . . Hat die arabische Kultur heute Raum für Regelverstöße und Abenteuer" – so fragen die jungen Typografen in ihrem Wandbild.

Den Mut, politische Zustände zu hinterfragen, zeigen einige Künstler in Installationen, die mal verspielt, mal bissig sind. Die junge Reem al-Ghaith aus Dubai zeigt ihren Wüstenstaat als chaotische Baustelle mit Sandsäcken, Neonlicht und Baumaschinen – "Bitte nicht betreten" steht in Englisch und Arabisch auf den Absperrungen. Die französisch-marokkanische Künstlerin Yto Barrada konstruierte eine Spielzeuglandschaft mit einem potemkinschen Wüstendorf, wo bei einem Staatsbesuch die Palmen aus dem Sand herausgefahren werden. Und Wafa Hourani aus Ramallah lädt die Besucher ein, durch die Straßen eines Miniatur-Palästinenserdorf zu spazieren, direkt an der Mauer zu Israel, die mit großen Spiegeln verkleidet wurde, als könne man die allgegenwärtige Konfrontation ausblenden.

Eines macht diese Schau deutlich: Unsere Wahrnehmung der islamischen Welt hat sich gewandelt. Vor hundert Jahren bewunderte man die Kunst und die bunte Exotik jener fernen Welten. In den aktuellen Werken von 29 Künstlern drängen gesellschaftliche und politische Fragen des Orients in den Vordergrund, mit denen unser Leben im Okzident aufs engste verknüpft ist.