"Im ersten Training bin ich richtig verschlagen worden"

23.12.2020 | Stand 01.01.2020, 3:33 Uhr

Stabhochspringer, Footballer, Bob-Anschieber: Der Münchner

Herr Seibert, wenn sich ein Fußball-Profi nach einer leichten Berührung minutenlang auf dem Platz wälzt, was geht Ihnen bei dem Anblick durch den Kopf?
Ingo Seibert: Na ja, es ist halt ein anderer Sport als mein ursprünglicher, Football, wo das absolut verpönt ist. Wenn du dich da mal fallenlässt, weil du kurz geschubst wirst und noch ein Schauspiel machst mit Hände hoch, dann fällst du gleich negativ auf. So jemand hätte es im Football normalerweise noch härter bekommen. Aber das kam ehrlicherweise nicht vor. Man fällt nur, wenn es tatsächlich ein Foul war. Das ärgert mich auch am Fußball. Es tut ja weh, wenn man mal eine gegen's Schienbein bekommt. Deswegen darf der Fußballer sich vor Schmerz krümmen, aber es sind ja Sachen dabei, die sind lächerlich. Bei 1860, wo ich Athletiktrainer war, waren die Jungs allerdings nicht so.

American Football ist derzeit so beliebt wie wohl nie in Deutschland. Zumindest als TV-Sport mit der NFL, jede Woche mehrere Spiele live, unter anderem mit Ihnen als Kommentator auf DAZN. Wie sehr freut Sie diese Entwicklung für Ihren Sport?
Seibert: Wirklich sehr. Den großen Push hat es gegeben, als vor etwa fünf Jahren ProSiebenSat.1 und DAZN zeitgleich eingestiegen sind. Da wurde ich dann auch gefragt. Und da ich bei DAZN gelandet bin, habe ich wohl ein Radiogesicht (lacht). Wir hören, dass wir nach dem Fußball die zweitbeliebteste Zuschauer-Sportart sind. Man sagt auch "Football is Family". Und das ist auch so. Wir haben kein Konkurrenzgehabe. Ich finde beide Formate toll. Jetzt geht es darum, diesen Schwung in den aktiven Sport in Deutschland rüberzubringen. Es soll ja nicht nur ein Zuschauersport sein.

Wie fühlt es sich an, von einem 150-Kilo-Mann beim Tackling begraben zu werden?

Seibert: Mit 21 bin ins Trainingslager der NFL Europe nach Atlanta geflogen, war noch nie in den USA, bin allein angekommen. Am Flughafen hat mich der Fahrer vergessen, ich musste dann mit dem Taxi eine Stunde zum Trainingsgelände der Atlanta Falcons fahren. Da war am ersten Tag der Check-up: alle in Unterhose, wiegen, messen. Da kamen mir echte Monster entgegen. Im allerersten Training, da kann ich mich lebhaft erinnern, bin ich richtig verschlagen worden. Das war ein Kulturschock. Viel schneller, viel kräftiger alles. Ich bin dann schon reingekommen, aber nach der allerersten Einheit saß ich im Doppelzimmer im Hotel und wollte nur noch heim. Gerettet hat mich, dass ich ein Schluchzen aus dem Badezimmer gehört habe. Da saß mein Zimmerkollege in der Badewanne voll mit Eis und hat geweint. Wir haben uns gegenseitig getröstet. Das hat uns die nächsten Tage begleitet. Und irgendwann hat es auch Spaß gemacht. Aber Trainingslager ist schon heftig.

Sie waren auf europäischem Top-Niveau unterwegs, 1995 World-Bowl-Sieger mit Frankfurt Galaxy und 1996 bester einheimischer Spieler der gesamten Liga. Sie sind aber mit 26 Jahren schon ausgestiegen. Warum?
Seibert: In meinem letzten Jahr 1998 hatte ich keine Einsatzzeit mehr bekommen, weil der Trainer mich nicht mochte. Ich war damals in meiner absolut besten Form und habe das als sehr ungerecht empfunden. Ich wäre dann zu Berlin gewechselt, das stand alles bereits fest. Ich bin aber in der Zeit schon Bob gefahren im Weltcup, hatte eine andere Sportart, die ich auf höchstem Level machen konnte. Zudem hat mich privat jemand gefragt, ob ich ein Fitnessstudio eröffne, das wir noch immer haben. Das war eine Glücksentscheidung. Und alles zusammen wäre nicht gegangen. Ich musste auch noch mein Studium zu Ende machen. Da ist dann die Vernunft aus mir gesprungen. Ein paar Jahre später habe ich mich noch einmal geärgert, weil ich schon noch gerne den Sprung in die NFL versucht hätte, zumindest versucht. Aber ich habe inzwischen total meinen Frieden damit gemacht.

Profi-Football ist eine große Knochenmühle. Haben Sie den Absprung nur rechtzeitig geschafft?
Seibert: Ich hatte damals in dem Jahr tatsächlich zwei-, dreimal eine Gehirnerschütterung, die ich aber ignoriert habe. Damals habe ich auch schon einen Artikel über Demenz bei Profisportlern gelesen. Dann dachte ich: Ne, lass' es. Ich hatte noch die anderen Sportarten.

Die World League und später die NFL Europe hielten sich bis 2007, dann wurde der Spielbetrieb von heute auf morgen eingestellt. 2021 soll die European League of Football (ELF) als europäische Profiliga starten. Welche Chancen geben Sie dem Projekt?
Seibert: Bei der jetzigen Profiliga sollen die Kosten nicht so hoch werden. Die Grundvoraussetzungen sind gut. Ich freue mich immer, wenn sich was tut. Ich hoffe, dass die German Football League (GFL) und die EFL sich nicht beharken - und dass es eine Win-win-Situation wird. Gut ist, dass das Fernsehen von vorneherein einsteigt. Dann kann das schon was werden. Die Fanbasis ist nach wie vor vorhanden. Nach 25 Jahren bekomme ich heute noch Fotos geschickt von Leuten, die einen Schrein für Frankfurt Galaxy aufgebaut haben. Also echt irre.
Ingolstadt wird als "Praetorians" eines der Teams im europäischen Konzert der Großen. Wie überrascht waren Sie davon?
Seibert: Mich freut es sehr, weil es in der Nähe ist und ich mir Spiele anschauen werde. Ich kenne auch ein paar Leute, die Ingolstadt vorangebracht haben, ganz toll, was da passiert ist. Nun der nächste Schritt, das ist dann ja auch die Entscheidung der Ingolstädter, dass die Dukes wieder tiefer anfangen.

Wird man Sie in irgendeiner Form in der ELF wiedersehen?
Seibert: Nicht ausgeschlossen. Bisher gibt es keine Gespräche, kann aber noch werden.

Nach der aktiven Karriere sind Sie in die Trainerszene eingestiegen, machten deutsche Ski-Asse wie Viktoria Rebensburg oder Maria Riesch fit, dazu Leichtathleten, die Fußballer des TSV 1860 München. Wer quält sich von denen am meisten?
Seibert: Ich hatte immer sehr ehrgeizige Sportler, das habe ich mir so ausgesucht. Die Fußballer haben sich schnell mitreißen lassen. Riesig gefreut hat mich ein Paket, das ich kürzlich von der Vicky Rebensburg bekommen habe, die ja ihre Karriere beendet und sich mit einem persönlichen Geschenk noch bedankt hat. Wir sind 2010 zusammen den Weg zu Olympia gegangen, ich war ihr Konditionstrainer. Danach habe ich aufgehört, weil es mit dem Reisen zu stressig war. Aber sie hat sich auf alle Fälle richtig quälen können.

Zehnkämpfer Florian Schönbeck qualifizierte sich unter Ihrer Anleitung für Olympia 2004 in Athen. Ihr größter und schönster Trainererfolg?

Seibert: Ja, das würde ich sagen. Erstens ist es nicht leicht, einen Zehnkämpfer mit diesen vielen Disziplinen zu betreuen. Da muss auf den Punkt alles passen. Und Florian war im Jahr davor so weit weg, dass ihm keiner eine Chance gegeben hat. Entsprechend emotional waren alle, als es dann geklappt hat. Der ist beim Quali-Wettkampf in Ratingen auf einer Welle geschwommen, das kann ich gar nicht beschreiben, was das für ein Gefühlschaos war. Dritter Versuch im Weitsprung, und du haust mal eine Bestleistung heraus. So ging das in jeder Disziplin. Beim abschließenden 1500-Meter-Lauf ist er gestürzt, hat es trotzdem geschafft. Das war eine irre Sache. Da funkeln gleich meine Augen. Bei Olympia hat es dann auch gepasst, gleich mit 100-Meter-Bestzeit. Aber das Training war auf Dauer nicht machbar. Da hat es kaum Finanzierung gegeben. Da bin ich irgendwann zum Fußball.

Ihre Wurzeln haben Sie aber ganz woanders. Wo genau?

Seibert: Ich habe 1983 Carl Lewis im Fernsehen gesehen, dann wollte ich Leichtathlet werden (lacht). Ich war im Stabhochsprung im Nationalkader, habe mir aber die Kniescheibe gebrochen. Anderthalb Jahre konnte ich kaum laufen, habe in der Reha nur Krafttraining gemacht. Aus meinem Freundeskreis fragte schließlich jemand, ob ich nicht mal zum Football bei den Munich Cowboys kommen wolle. Da ging es schnell: erstes Liga-Spiel, erstes Bundesliga-Spiel, erster Touchdown. Das hat sehr bald Spaß gemacht. Da waren dann die Cheerleader (lacht). Da bist du schnell weg vom anderen Sport. Zum Bobfahren war es letztlich auch nicht mehr weit.

Dritter im Bob-Weltcup 1994, Juniorenweltmeister 1996: Wie fühlt es sich an, als Mitfahrer ohne Sicht den Eiskanal hinabzuschießen?
Seibert: Das erste Mal habe ich angeschoben, bin reingehüpft und fand es super. Das war wie eine Achterbahn. Beim zweiten und dritten Mal war es schon belastend. Und beim vierten Mal dachte ich: Lasst uns anschieben, dann kann der allein runterfahren (lacht). Der Druck, der da entsteht, wenn du mal gestürzt bist, ist echt heftig. Aber ansonsten ist es sehr spaßig. Auf so einer aufgespritzten Weltcup-Bahn, da pfeift es dann schon.

Sie waren fast acht Jahre Athletiktrainer beim TSV 1860 in einem sehr emotionalen Umfeld, mit Tiefen und ein paar Höhen.
Seibert: Für mich war das ganz toll. Das ist dort wie eine Familie. Aber es waren schon teils heftige Zeiten. Da könnte ich ein ganzes Buch drüber schreiben, was ich alles erlebt habe. Irgendwann habe ich das Zählen aufgehört, aber es dürften 14 Trainerwechsel gewesen sein und auch viele Sportdirektoren und Präsidenten. Am Abstieg war ich nicht beteiligt. Da waren die Portugiesen am Werk. Da bin ich auch froh, das war eine ungute Zeit. Ich kam zurück, als wir mit Daniel Bierofka als Trainer wieder in die 3. Liga sind. Das war ein Erlebnis, wie wir da ums Stadion herumgefeiert haben. Also ich kann gut feiern (lacht). Da haben wir Highlights gesetzt, da müssen andere erst einmal hinkommen. Zum Schluss konnte ich bei 1860 nicht mehr so viel Zeit investieren, weil mein Studio immer größer geworden ist.

Wenn es um Partys geht, was können Sie da empfehlen: eine Siegesfeier als World-Bowl-Champion im Football wie 1995 oder eine Aufstiegsfeier mit den Löwen wie 2018?
Seibert: Das ist ein krasser Vergleich (lacht). Beides war unmenschlich und hat mich Jahre meines Lebens gekostet. 1860 war von den Fans krasser, dabei war Galaxy schon irre. Da waren 10000 Leute aus Frankfurt in Amsterdam bei strömendem Regen dabei. Am Römer in Frankfurt hatten wir die Meisterfeier. Ich kann mich auch nicht mehr an alles erinnern (lacht), der absolute Wahnsinn. Ich war sehr jung und konnte das noch nicht so genießen. Ich dachte, das geht jetzt immer so weiter. Bei 1860 war mir schnell bewusst, wir haben da was geschafft, auf das man in 20 Jahren noch zurückblickt. Deshalb war die Freude fast noch größer. Jetzt drücke ich die Daumen, dass es noch weiter nach oben geht.

Das Gespräch führte
Christian Rehberger.