München
Horrorvisionen und Gewaltorgien

Martin Kusejs "Faust"-Version im Münchner Residenztheater

06.06.2014 | Stand 02.12.2020, 22:36 Uhr

Dauerexzentrische Horrorshow: Bibiana Beglau als Mephisto (links) und Werner Wölbern als Faust. - Foto: Horn

München (DK) Nach 30 Jahren präsentiert das Residenztheater nun eine Neuinszenierung von Goethes Klassikerdrama „Faust“. Doch bereits in der Pause schwärmten die Münchner Theaterfans fast ausschließlich und enthusiastisch von Dieter Dorns legendärer Aufführung vom Jahre 1987 in den Kammerspielen mit Helmut Griem in der Titelrolle, mit Romuald Pekny als Mephisto, Cornelia Froboess als Marthe Schwerdtlein und Sunnyi Melles als Gretchen.

Dieser Jahrhundertaufführung voll philosophischem Tiefgang, gepaart mit intellektuellem Witz, wollte Residenztheater-Intendant Martin Kusej freilich nun nicht Paroli bieten. Sondern – wie das Programmheft es reichlich verschwurbelt verkündet – er wollte in seiner Inszenierung zeigen, dass „in einer Zeit, in der das Jenseits abgeschafft ist und die endliche Diesseitsspanne maximal ausgeschöpft, aufgeladen und ausgedehnt werden muss“, Faust „zum Sinnbild unserer Angst vor dem Stillstand, der Leere und der Erinnerung an die eigene Nichtigkeit“ wird.

Warum der Resi-Hausherr als Regisseur gerade dieses Drama für diese Erkenntnis ausgesucht hat, zeigt er nun in dieser allzu schrillen Inszenierung eines Verschnitts aus „Faust I“ und „Faust II“ überdeutlich: In brutalen Albträumen visualisiert er Fausts Visionen als realen Horror in einer kruden Abfolge von Schmuddelsex und Gewaltorgien. Doch dazu wollen Goethes hehre Verse nicht so recht passen.

Nein, ein Grübler, ein selbstquälerisch-erkenntnissüchtiger Gelehrter ist dieser Dr. Heinrich Faust in Kusejs Sicht wirklich nicht. Einen unscheinbaren Biedermann im grauen Anzug und in der Midlife-Crisis gibt Werner Wölbern hier als Durchschnittsspießer ab, der den Pakt mit Mephisto schließt, um – auf der Suche nach dem ultimativen Kick – allein seine ausschließlich triebgesteuerten Gelüste kräftig ausleben zu können. Und so bekommt er von Mephisto auch das serviert, was er dank Aufputschmitteln mit seinen von Testosteron geweiteten Augen sehen will: Frauen sind für ihn ausschließlich Lustobjekte.

Dazu – stets in symbolisch düsteres Dämmerlicht getaucht – zieht die Außenwelt in Horrorszenarien an ihm vorüber: Beim Osterspaziergang sind nicht nur Seen und Bäche vom Eise befreit, sondern auch die Bürger sind all ihrer Hemmungen entledigt, prügeln sich und kopulieren nach Herzenslust. Vor der Kirche toben sich die Menschen in wüst-wilden Sex- und Vergewaltigungsorgien aus, und in Auerbachs Keller wird nicht ausgelassen gebechert, sondern die Studenten liefern sich brutale Schlägereien, bis das Blut aus Mund und Nasen fließt. Überall – vor allem in der Walpurgisnacht-Szene – lauern finstere Gestalten, Mafiosi-Killer, Prostituierte und ordinäre Schlampen, während zwischendurch die im realen Leben Gestrauchelten und Gefallenen bei Technodröhnen und im Stroboskop-Licht Veitstänze aufführen. Kein Wunder also, dass das von Faust verführte Gretchen nicht nur am Ende dem Wahnsinn verfällt, sondern im grell erleuchtenden Kerker sich auch noch selbst entleibt und blutüberströmt das Leben aushaucht. Von enttäuschter Liebe keine Spur, weshalb Gretchen nur als Erniedrigte und Missbrauchte in Kusejs Deutung gesehen wird und Mephisto als androgyne Domina das Geschehen voll beherrscht.

In einem sich schier überschlagenden Medien-Hype wurde Bibiana Beglau als weiblicher Mephisto bereits vor der Premiere bejubelt. Sie verkörpert diese Rolle ja auch durchaus bewundernswert, aber die Dauer-Exzentrik dieses ganz in Schwarz gekleideten Teufelspaktdämonen stumpft schnell ab. Die ganze Horrorshow freilich ist nicht Realität, sondern spielt sich im Hirn des armen Faust-Tropfes ab, weshalb die zweistöckige Drehbühne (unten ein Waschbecken mit Spiegel als Fausts Studierstube, oben ein mit Drahtzäunen gesäumter Boxring) stets rotiert.

In dieser vordergründigen, auf Schock gebürsteten Inszenierung verkörpert wenigstens Andrea Wenzl das Gretchen anrührend. Liebreizend, stolz und selbstbewusst wandelt sie durch die ihr fremde Horrorwelt. Wenigstens ist dies ein Lichtblick.

Das Premierenpublikum reagierte mit höflichem bis stürmischem Applaus für die Schauspieler und mit Buhs durchsetztem Beifall für den Regisseur.

 

Weitere Aufführungen: 8. und 22. Juni sowie 6., 10., 26., 28. und 29. Juli. Kartentelefon: (0 89) 21 85 19 40.