Warschau
"Haltet die Russen auf!"

Für Polen hat das Duell gegen den großen Bruder auch eine politische Dimension

11.06.2012 | Stand 03.12.2020, 1:24 Uhr

Historisches 0:0: Bei der WM 1982 in Spanien trafen Polen und die damalige Sowjetunion letztmals aufeinander. Im Bild ein Zweikampf zwischen Polens Grzegorz Lato (links) und Vladimir Bessonov - Foto: Imago

Warschau (DK) Russische Fans wollen mit Hammer und Sichel provozieren, die Polen richten sich auf eine Schlacht ein: Selten genug hat es in der Weltgeschichte des Fußballs ein politisch derart aufgeladenes Match gegeben wie das Duell zwischen Polen und Russland heute (20.45 Uhr) in Warschau.

Es ist das erste Endrundenspiel der beiden Nachbarn seit dem Fall des Eisernen Vorhangs – zuletzt traf man sich 1982 bei der Weltmeisterschaft in Spanien. Damals herrschte in Polen das Kriegsrecht, der Volksheld hatte Hausarrest, und an der Grenze fuhren sowjetische Panzer auf.

„Für ein solches Spiel braucht man keine Extra-Motivation“, erinnert sich Stefan Majewski, „aber so heiß wie damals waren wir noch nie.“ Majewski war als Verteidiger dabei, 40 Länderspiele hat er bestritten und in der Bundesliga für Arminia Bielefeld und den 1. FC Kaiserslautern gekickt. Er hat also viel erlebt, doch die Erinnerung an diesen 4. Juli 1982 ist frisch.

Im letzten Spiel der zweiten Finalrunde trafen die sozialistischen Bruderstaaten aufeinander; beide hatten zuvor Belgien geschlagen – die Sowjets nur mit 1:0, die Polen mit 3:0. „Uns genügte ein Unentschieden, um ins Halbfinale zu kommen, die Russen mussten gewinnen“, sagt Majewski, „da war unsere Taktik doch klar.“

Aber es ging in jenen Tagen nicht nur um Taktik auf dem Rasen. Auf der Danziger Werft hatte begonnen, was sich zum Aufbegehren des polnischen Volkes gegen die Mängel der sozialistischen Zwangsherrschaft durch den großen Bruder UdSSR ausweitete. Die Opposition hatte in dem schnauzbärtigen Chef der Gewerkschaft Solidarnosc eine charismatische Symbolfigur gefunden: Lech Walesa.

Auf die Rebellion reagierte Polen wie zuvor schon Ungarn (1956) oder die Tschechoslowakei (1968) – mit Repression und dem Ruf nach dem großen Bruder. Regierungschef Wojciech Jaruzelski verhängte das Kriegsrecht, stellte Walesa unter Hausarrest und bat die Sowjets um Hilfe. Die rollte an in Form von Panzern, die als Drohkulisse an der Grenze auffuhren.

„Natürlich wussten wir durch unsere Familien, was in Polen los war. Das hat unsere Motivation noch einmal erhöht, was aber eigentlich gar nicht nötig war“, erzählt Verteidiger Majewski. Vor dem Spiel in Barcelona kam ein Telegramm des Generals Jaruzelski, der viel Erfolg wünschte.

1982 sollte der Kampf auf dem Rasen Symbol für den Widerstand eines ganze Volkes sein. Die Welt schaute nach Barcelona – und sah beim Abspielen der Nationalhymnen ein 25 Meter langes Transparent mit dem markanten Schriftzug Solidarnosc, an anderen Stellen im Stadion hingen Plakate „Lasst Walesa frei“. 45 000 Zuschauer feuerten die Polen an.

Am Tag nach dem 0:0 und dem Ausscheiden der Sowjetunion aus dem WM-Turnier leugnete der russische Pressesprecher die Solidaritätsbekundungen („Welche Transparente? Wir haben keine gesehen“), dann schnitt das Staatsfernsehen in der Spielzusammenfassung alle Szenen heraus, auf denen im Hintergrund die Plakate zu sehen waren. In der Live-Übertragung, die ganz Polen verfolgt hatte, war das natürlich nicht möglich gewesen.

Die Partie an diesem Dienstag ist die erste Endrundenpartie seit dem Zerfall des Ostblocks – und doch ist sie politisch aufgeladen. Das polnische Magazin „Newsweek“ zeigt auf der aktuellen Ausgabe Trainer Francisek Smuda in der Uniform, wie sie die Soldaten des legendären Marschalls Pilsudski bei dessen Sieg 1920 gegen die Rote Armee der Sowjets trugen. Die Titelzeile lautet: „Der Warschauer Kampf 2012 – warum es gegen Russland nicht nur um Fußball geht.“

Selbst die seriöse „Gazeta wyborca“ titelte am Montag: „Haltet die Russen auf!“ Darin liegt eine kalkulierte Doppeldeutigkeit, denn tausende russischer Fußballfans wollen heute den Jahrestag des Zerfalls der Sowjetunion mit einem Demonstrationsmarsch zum Nationalstadion in Warschau begehen – und dabei Fahnen mit den in Polen verhassten Symbolen der Abhängigkeit wehen lassen: Hammer und Sichel, auf rotem Stoff.

Polnische Nationalisten antworten darauf, in dem sie die Verschwörungstheorien um den Absturz der Präsidentenmaschine am 10. April 2010 im russischen Smolensk beleben. Sie verehren den dabei getöteten Staatspräsidenten Lech Kaczysnki als Märtyrer und fordern von der Nationalmannschaft: „Siegt für Smolensk!“

Ein Unentschieden würde ihm schon genügen, sagt dagegen der Ex-Nationalspieler Stefan Majewski, der heute die U-21-Nationalmannschaft trainiert. Er wird als Zuschauer im Stadion sein. Und hofft, dass das Spiel spannender wird als das von 1982: „Das war nämlich, obwohl soviel auf dem Spiel stand, ziemlich langweilig.“