Györ strahlt leuchtend

15.07.2016 | Stand 02.12.2020, 19:32 Uhr
Das bekannteste Gebäude von Györ und Symbol der Stadt ist das um die Wende zum 20. Jahrhundert im Neobarockstil erbaute Rathaus, das auch in der Dunkelheit seinen Zauber entfaltet. −Foto: Rehberger

Györ (DK) Seit 1993 ist Audi in der westungarischen Stadt und baut dort beständig aus, seit 2008 besteht eine Städtepartnerschaft mit Ingolstadt. Wie am Hauptsitz bringt der Autobauer auch diese Region zum Boomen. Ein Besuch – der viele weitere Gemeinsamkeiten offenbart.

Weiß, fast der ganze Raum, und – wie ein Farbtupfer – die rote Jacke über der Stuhllehne. Die Wände im Büro von Peter Kössler sind kahl – noch. Er malt mit den Händen Bilderrahmen in die Luft. „Hierhin einen Typ-C-Rennwagen.“ Historie und Zukunft. „Und dort die Designstudie eines TT – ein echtes Hungaricum. Der ist ja von Anfang an ein ungarisches Produkt.“ Seit Oktober ist der Ingolstädter der Chef hier, aber die große Einrichtungsrunde hat der 57-Jährige noch nicht geschafft, nachdem er als Werkleiter des Audi-Stammsitzes aus Ingolstadt auf denselben Posten nach Györ rotierte. Das liegt am stets vollen Terminkalender, den der Werkleiter der ungarischen Audi-Dependance zu haben pflegt, denn er ist auch Geschäftsführer der Audi Hungaria Motor Kft., wie der Betrieb seit der Gründung 1993 korrekt heißt.

Zwölf Jahre führte Vorgänger Thomas Faustmann die Geschicke. Kössler ist vergleichsweise kurz hier, aber schon einer von ihnen. Der Chef streift sich in seinem Eckbüro im zweiten Stock des unscheinbaren Gebäudewürfels direkt an der ersten riesigen Produktionshalle den roten Arbeitskittel über und lacht. „Das finde ich richtig toll, dass auch die Büroleute die tragen.“ Sogar im Vorzimmer hängen die Jacken griffbereit über den Stühlen. Die Namen über der Brust eingestickt. Rund 11 500-mal. So viele Mitarbeiter hat Audi am ständig wachsenden Standort Györ.

Wer von den Hungaro-Audianern auf die Tour durchs Werk mitgenommen wird, merkt sofort den Stolz, den sie für ihren Arbeitgeber und ihre Leistung aufbringen. Zwei Millionen Motoren haben sie vergangenes Jahr gebaut „im größten Motorenwerk der Welt“, wie Attila Haczai schwärmt, der einer der Leiter des Produktionsabschnittes ist. Die Hälfte geht an Volkswagen, ein Viertel an Audi, fast alle Autofirmen aus der VW-Familie sind Kunden, bis hin zu Bentley.

Die Zahlen sprudeln aus ihm und den anderen heraus. Der V6-Diesel, den er mitverantwortet, nimmt neun Liter Motoröl auf. „Das ist schon eine Menge...“, sagt Haczai lächelnd in perfektem Deutsch. Die Firmensprache ist die der Mutter Audi, also Deutsch. Wegen der Internationalität geht es in Györ oft dreisprachig zu. Der Besucher wird am Haupttor dreifach begrüßt: „Üdvözöljük“, „Willkommen“, „Welcome“. Schilder in der Produktion sind zweisprachig. „Az elöny kötelez“ – so steht es auf einer Seite. Auf der anderen: „Vorsprung verpflichtet“.

Das tragen die Mitarbeiter besonders im Herzen, seit sie ein kompletter Automobilstandort sind. Früher wurde hier neben dem Motorenbau der TT nur montiert. Seit 2013 werden A3 Cabrio und A3 Limousine sowie TT Coupé und TT Roadster komplett produziert. Rund 660 Fahrzeuge pro Tag. Mehr als 160 000 Wagen voriges Jahr: „Das werden wir heuer nicht ganz erreichen“, sagt Kössler mit Blick auf Umbauarbeiten an der Linie. Ab 2018 wird der Q3 folgen, die Fundamentarbeiten für die nächste riesige Halle laufen bereits.

Platz ist genügend da. 720 Meter lang ist alleine die bestehende Montagehalle, in der alle vier Modelle auf einer Linie laufen, errichtet auf der grünen Wiese. „Wir könnten die gesamte Anlage spiegeln und daneben nochmals bauen. Die Möglichkeiten sind fast unbegrenzt“, sagt Kössler, der über Jahre in Ingolstadt auf engstem Raum werkeln musste. Fünf Millionen Quadratmeter hat das Audi-Gelände am nordöstlichen Rand von Györ. Fast das Doppelte wie in Ingolstadt. Die Produktion ist nach den modernsten Standards aufgebaut, lehrbuchhaft. „Das neue Werk in Mexiko ist unser Schwesterwerk“, berichtet der Werkleiter und geht an einer grauen S3 Limousine mit schwarzen Felgen vorbei – sein Dienstauto. „Hier am Standort produziert. Das habe ich in Ingolstadt auch so gehalten.“

Gebaut haben es Zoltan Les und seine Männer. Der Leiter der Montage ist „ein Mann der ersten Stunde“, wie er angekündigt wird. Seit 18 Jahren „versuche ich hier zu helfen...“, sagt Les bescheiden und lächelt. Im Gegensatz zu den grau-hosigen Kollegen in Ingolstadt tragen seine Leute rote Hosen, dazu ein weißes T-Shirt oder Polohemd. Manche mit grünem Kragen. Fertig sind die ungarischen Nationalfarben. Zwei neue Mitarbeiter sind Les’ zusätzlicher Stolz, sie sind beim Reporterbesuch noch in der Testphase und hören auf die Namen „Adam“ und „Eva“. Zwei Roboter, die integriert in die laufende Linie mit Menschen an einer Station arbeiten – Weltpremiere. Zusammen messen sie 25 Spaltmaße der Autos. „Der Robby kniet sich für die Mitarbeiter“, erklärt Les, wieso der Einsatz hier großen Sinn ergibt. So etwas kann man (bisher) nur in Györ beobachten. Und noch etwas: An einem anderen Bandabschnitt (übersetzt „Szalagszakasz“) schweben Karosserie und Chassis heran und vereinigen sich. „Eine TT-Hochzeit, das kann Ingolstadt auch nicht bieten“, sagen die Mitarbeiter schmunzelnd. Wobei es für die „Vermählung“ nur mehr eine Person braucht: A’dam Kun, seit drei Jahren Audianer, zieht an seiner Station routiniert die Schrauben fest. Verbunden sind die TT-Autoteile.

Stolz blickt ein paar Gebäude weiter auch Andreas Kieber auf seine Leute. Der Chef des Werkzeugbaus klingt aber traurig. Es sind seine letzten Arbeitstage in Györ. Nach fünf Jahren geht er zurück nach Neckarsulm. 450 000 Karosserieteile bis hin zur exklusiven Kleinserie bauen seine Jungs jährlich. „Einmalig im ganzen Konzern“, schwärmt der Schwabe. Jahre früher als geplant hätten die ungarischen Audianer ein herausragendes Niveau „im größten Werkzeugbau Mitteleuropas“ (Kössler) erreicht. Kieber geht mit einem lachenden und einem weinenden Auge in die Heimat zurück. Vielleicht kommt er wieder nach Györ. Er wäre nicht der erste deutsche Audianer, dem das so geht.

Eine Städtepartnerschaft ist eine schöne Sache – zumindest auf dem Papier. Doch tatsächlich passten selten zwei Orte so gut zusammen wie Ingolstadt und Györ, die seit 2008 freundschaftlich verbunden sind. Derart ähnlich sind sie sich; selbst wenn man vom jeweils anderen ziemlich wenig weiß. Doch wer nur ein paar Minuten durch die westungarische Industriestadt kurvt oder schlendert, der erfasst schnell die schönen Gemeinsamkeiten und auch feinen Unterschiede. Audi, klar, das ist der Motor des Aufschwungs auch für die Ungarn. „Man muss aber beides sehen: Werk und Stadt“, erklärt Peter Kössler, als er den Chefposten beim Autobauer in der Mittagspause kurz mit dem des Stadtführers tauscht. In der Peripherie dominieren Industriehallen, doch das Herz der wie Ingolstadt rund 130 000 Einwohner zählenden Stadt schlägt historisch. Das „prachtvolle Rathaus“ sticht hervor. Hier kommt Kössler nicht nur gern für „unregelmäßig regelmäßige Treffen“ mit Bürgermeister Zsolt Borkai vorbei, den er sehr schätzt. „Der tut alles für seine Stadt.“ Und natürlich für Audi, den segensreichen Betrieb, der aber auch den Druck auf die Region erhöht. Wie in Ingolstadt. „Es gibt sehr viele Ähnlichkeiten“, hat Kössler in dem Dreivierteljahr festgestellt, das er (nach acht Jahren als Leiter in Ingolstadt) hier schon arbeitet und auch lebt. Er hat sich eine Doppelhaushälfte an der Donau genommen und begegnet altbekannten Themen auf dem Weg in die Arbeit. „Die Donaubrücke ist das Nadelöhr.“ Wobei es die Mosoni Duna, die Kleine Donau, ist, ein Seitenarm, der mitten in Györ mit der namensgebenden Raba (der deutsche Name der Stadt ist Raab) zusammenfließt. Die große Donau fließt einige Kilometer nordöstlich an Györ vorbei und bildet dort die Landesgrenze mit der Slowakei.

Die Verkehrsdichte, das ist eine Gemeinsamkeit. Doch plötzlich gerät Kössler ins Schwärmen. „Ein Traum!“, sagt er, als es über die mehrspurige Hauptverkehrsachse geht, die das Audi-Werk mit der Innenstadt verbindet. Und das Nonstop. „Eine grüne Welle. Die funktioniert! Das ist der lebende Beweis“, jubelt Kössler. Da könne sich Ingolstadt was abschauen. Auch Bürgermeister Albert Wittmann habe er sie bei dessen Besuch unlängst natürlich präsentiert. Doch genauso gut lässt man das Auto hier auch mal stehen und nimmt den Weg durch die herausgeputzte Fußgängerzone. „Györ hat ein pulsierendes Leben“, sagt Stadtführer Kössler, der aber, wie er bedauert, viel zu selten davon Gebrauch machen kann – der Terminkalender eben. Und Budapest und Wien locken ebenfalls mit nur einer Autostunde Entfernung. „Meine Frau kennt sich hier fast besser aus“, sagt er lachend. Vorbei geht es an gut besetzten Straßencafés und Restaurants, die sich zum Abend hin immer mehr füllen. Auch unter der Woche. Besonders am großen Széchenyi-Platz, der als einer der schönsten (Mittel-)Europas gilt.

Die alten Häuser sind schick und modernisiert. Ja, Györ sei eine reiche Stadt, bestätigt Kössler lächelnd. Audi ist nicht nur der größte Exporteur des Landes und somit einer der wichtigsten Arbeitgeber Ungarns, sondern auch ein sehr guter Gewerbesteuerzahler. Die Audi Hungaria Motor Kft. schickt als einheimisches Unternehmen ohne Umwege das Geld ins Stadtsäckel. Von der Diesel-Affäre im VW-Konzern bleibt Györ im Gegensatz zu Ingolstadt also verschont. Audi Hungaria zahlt brav weiter.

Auch sonst ist das Unternehmen in der Stadt präsent, unterstützt die Uni (mit rund 10 000 Studenten), das Theater, das Ballett, die Philharmoniker und viele weitere Kulturfestivals und Konzerte. Der Spaziergang geht vorbei am Fanshop der Györer Handball-Frauen, deren Namenssponsor Audi ist. Sie sind europäische Spitze und treten (mit den vier Ringen auf der Brust) in der kürzlich eröffneten Audi-Arena (direkt an jener vierspurigen Ausfallstraße) an. Bei den Fußballern hat sich Audi nach dem turbulenten Zwangsabstieg in die dritte Liga zurückgezogen. Dass sich der sportbegeisterte Kössler – bekannt als FCI- und noch mehr als ERCI-Fan – auch mal beim Handball sehen lässt, ist hier gesellschaftlich gefragt. Als Audi-Repräsentant führte einer der ersten Wege direkt zu Staatspräsident Viktor Orban. Beim Wirtschafts- oder Außenminister ist er ebenfalls immer wieder. „Mit der ungarischen Regierung und der Stadt haben wir zwei tolle Partner“, sagt Kössler.

Audi mit seinen Zulieferern beschert der Region nahezu Vollbeschäftigung. Aus dem ärmeren Osten des Landes strömen die Menschen herbei. Das bringt natürlich Druck auf den Wohnungsmarkt. „Puh“, stöhnt Kösslers persönlicher Assistent bei dem Thema. Andras Toth suchte lange einen Bauplatz für die Familie, bis er doch fündig wurde. „Es gibt nichts, der Markt ist überhitzt“, erzählt er. Mieten würden inzwischen große Teile des (für deutsche Verhältnisse) nicht üppigen Monatslohns auffressen. Der Staat fördert Familien immens mit Darlehen. Dennoch sei es sehr schwer.

Die Stadt Györ reagiert und baut und baut. Helfen soll auch ein Großereignis, das Györ nächstes Jahr (auch mit Audis Unterstützung) stemmen wird: das Europäische Olympische Jugendfestival. Das sportliche Engagement lebt Bürgermeister Borkai vor, ein leibhaftiger Turnolympiasieger – 1988 in Seoul. Im Anschluss an die Jugendolympiade wird das Athletendorf für den Wohnungsmarkt zur Verfügung stehen.

Industriebrachen gibt es auch noch zum Entwickeln. Besonders beim vor der Wende traditionsreichen und florierenden Fahrzeughersteller Raba, dessen halb fertige Halle von Audi im Jahr 1993 als Grundstock für die Ansiedelung für das Motorenwerk gekauft worden war. Die Ingolstädter konnten auch beim Personal auf die Facharbeiter zurückgreifen, die in der Industriestadt Györ seit jeher zu finden sind. So kam auch der Vater von Petra, einer jungen Stadtführerin aus dem Rathaus, als einer der Ersten von Raba zu Audi. „Die Stadt hat sich gerade in den vergangenen zwei, drei Jahren sehr verändert“, berichtet die Mittzwanzigerin beim Streifzug durch die (vom Papst besuchte) Basilika, an die bevölkerte Donau (mit Restaurantschiff) und in die Fußgängerzone. Wie in Ingolstadt weichen alteingesessene Geschäfte hier vermehrt Imbissen, Cafés und Billigläden. An einem Schnellrestaurant zeigt sie den einzigen sichtbaren Hinweis auf die Städterpartnerschaft – eine steinerne Landkarte. Darauf sind Ingolstadt und Györ nur wenige Zentimeter entfernt. Wie im realen Leben eigentlich auch.