Neuburg
Glücksmensch, der keinen Groll kennt

Einer der Gründerväter des Fanfarenzugs: Robert Sellner aus Neuburg feiert an diesem Samstag seinen 100. Geburtstag

13.09.2019 | Stand 23.09.2023, 8:33 Uhr
Josef Heumann
Auch wenn es das aktuelle Bild nicht verrät: Stolze 100 Jahre alt wird Roland Sellner an diesem Samstag. −Foto: Heumann

Neuburg (DK) Ruft man erstmals und bis dato unbekannter maßen bei einem 100-Jährigen an, weiß man nicht so recht, was einen wohl erwartet.

Es meldet sich eine ausgesprochen kräftige, frische und weibliche Stimme - ach so, hat der Herr wohl eine Haushaltshilfe, Betreuerin oder so. Später beim Besuch entpuppt sich diese alles andere als alt anmutende Stimme als der Frau des Hauses gehörig, selbst auch schon 94 Jahre alt. Und unisono schwärmen Christa und Robert Sellner von dem großen Glück, das ihnen beschieden war. Der Mann feiert an diesem Samstag seinen 100. Geburtstag. Fit, rüstig, hellwach, geht glatt als 85-Jähriger durch.

Und noch mehrmals fällt in dem Gespräch der Satz "Ich habe immer Glück gehabt in meinem Leben. " So viel geballter Ladung Lebenskraft, Lebensfreude begegnet man nicht alle Tage. 100 Jahre und ein Leben ohne nennenswerten Krankheiten, dazu eine Partnerin mindestens so fit wie er. Den Haushalt, alles im täglichen Leben machen die Sellners noch selbst. Dass eine Nachbarin sie nun im Auto immer zum Einkaufen mitnimmt, ist schon bequem, die Schritte werden kleiner. Seit einem Jahr gibt es eine Putzfrau, "auch nur, weil die Kinder unbedingt darauf bestanden haben". Christa und Robert Sellner wissen schon, dass ihr Leben nicht ganz der Regelfall ist, und genießen es auf ihre ganz bescheidene Weise auch. Großes Glück hatte Robert Sellner schon während des Krieges. Sechsmal wurde seine Maschine getroffen, aber Sellner, er war Kampfbeobachter nach heutigem Sprachgebrauch oder Bomberschütze, wie es damals zutreffender hieß, blieb dabei stets unverletzt.

Die Fliegerei war für den jungen Menschen, aufgewachsen in Winterberg - "ich bin ein echter Böhmerwäldler" - ein großes Abenteuer, weltanschaulich war er mehr in der Kirche und in der Wandervogel-Bewegung verwurzelt. Das Kriegsende erlebte er gerade auf Heimaturlaub, wahrscheinlich gab es einfach kein einsatztaugliches Flugzeug mehr. Es war Pfingstsonntag. Als er aus der Kirche kam, waren die Amerikaner da, die die Deutschen kurzerhand an die Tschechen auslieferten.

Aber da setzt sich die Glückskette fort. Robert Sellner, erlernter Beruf Friseur, sprachlich und im Umgang mit Menschen von Berufs wegen gewandt, wurde als Dolmetscher gebraucht, ein besonderer Zufall sicherte ihm freies Geleit durch Partisanengebiet. Als sich zeigte, dass sich die Tschechen "von einem deutschen Schwein" die Haare nicht schneiden lassen wollten, nahmen die Amerikaner ihn mit, auch, als diese das Sudetenland räumten. Mit den Amerikanern kam Sellner direkt nach Neuburg. "Ich wollte eigentlich weiter nach England. Aber da ließen sie mich nicht mit. "

Kaum in der Ottheinrichstadt angekommen, konnte der wendige Mann bei der Telekom, damals noch Post-vereinigt anfangen. In ganz Nordschwaben war der Bautrupp im Ausbau des Telefonnetzes unterwegs, Sellner wurde Truppführer, alsbald sogar verbeamtet. 1949 heiratete er seine Walli, die ihm zwei Kinder schenkte, Ende der 90er-Jahre aber verstarb. Auf Verlust und Trauer folgte, wie er es heute nennt, "mein größtes Glück". Er lernte seine Christa kenne, die sich gleich in der Nachbarschaft etwas um eine Schwägerin von ihm kümmerte. Christa Herrmann, die nach dem Krieg mit den Goldfisch-Werken nach Neuburg gekommen war, betrieb später eine eigene Strickerei im Nordviertel der Stadt, wo Robert Sellner gleich 1950 zusammen mit einem Nachbarn die ersten zwei Häuser auf sonst noch grüner Wiese weit und breit baute.

An den Tag erinnern sich beide noch wie gestern. Christa Herrmann putzte gerade das Fenster, von der Straße aus rief Robert Sellner ihr zu, ob sie nicht mit ihm aufs Gäubodenfest fahren wolle. Die Frau sagte Ja und seit 30 Jahren erleben sie nun das Glück einer späten Partnerschaft. Das Tanzen ist beider große Leidenschaft. Erst seit einem Jahr gehen sie nicht mehr so gern zum Seniorentanz, wo sie lange Stammgast waren, die neue Lokalität sagt ihnen nicht so zu.

Glücksmensch, der keinen Groll kennt, knüpfte Robert Sellner bald schon Kontakt wieder in die alte Heimat, pflegte freundschaftlichen Umgang mit den neuen Besitzern seines Elternhauses. Wenn an seinem 100. Geburtstag vorübergehend etwas lauter wird in der sonst so ruhigen Pappenheimstraße: Robert Sellner gehörte zu den Gründungsvätern des Fanfarenzuges in Neuburg. Da war noch einmal der alte Wandervogel-Geist, der offensichtlich so jung hält.

Josef Heumann