Pfaffenhofen
Für fünfzig Pfennig in die Traumwelt

11.06.2010 | Stand 03.12.2020, 3:57 Uhr

Lange Besucherschlangen bildeten sich bei Kinder- und Jugendvorstellungen im Lichtspielhaus, das Josef ("Bewe") Breitner von 1921 bis Anfang der fünziger Jahre an der Ecke Riederweg/Ingolstädter Straße betrieb. - Fotos: PK-Archiv

Pfaffenhofen (PK) Die Ingolstädter Straße ist seit dem 15. Jahrhundert eine der wichtigsten Handels- und Verkehrsstraßen, die den Norden des früheren Wittelsbacher Herrschaftsgebietes mit München verband. Mit dem Abriss des Franzbräu- und Siglareals wird der Straßenzug zwischen Hauptplatz und Löwenstraße ein völlig neues Gesicht bekommen.

Noch hat man sie nicht vergessen: Das Bräustüberl mit seinem Biergarten – eine letzte stille Oase in der lärmenden, verkehrsgeplagten Innenstadt; oder die frühere Rauscher-Wirtschaft (Franzbräu). Eine Tuschmalerei mit einem buddhistischen Mönch schmückte bis zuletzt die Eingangstüre zu dem China-Restaurant, das hier als letzter Mieter eingezogen war. Ich erinnere mich auch noch an den schon lange leer stehenden Laden nebenan, den kurze Zeit Hanns Wagner mit seinem Fotogeschäft nutzte, bevor er auf der anderen Straßenseite sein neues Geschäft bezog. Anton Herterich betrieb einige Jahre einen Spar-Lebensmittelladen im Rauscher-Anwesen. Dann zog ein Tanzlokal, das Mandy’s, ein. Und auch eine vergessene Reklameaufschrift, "Döner Kebap 5 €Euro", wies bis zum Abriss auf einen weiteren Mieter hin.

Sehnsucht nach Bella Italia

Die älteren Pfaffenhofener werden sich auch noch an viele andere Geschäfte, Gasthäuser und Menschen erinnern, die dieser Straße in den vergangenen Jahrzehnten ihr Gesicht gegeben haben. Zum Beispiel das Uhren-, Schmuck- und Brillengeschäft von Löffler und Weidner, das über 90 Jahre hier ansässig war, bevor es in jüngster Zeit dem Verwaltungskomplex des Landkreises für die Hartz-IV-Verwaltung weichen musste. Wie schon lange zuvor das Kaufhaus Hufnagel. Es stand dort, wo heute die Volkshochschule ihre Kunden betreut. Bis zu dem Neubau gab es hier über viele Jahre hinweg die erste italienische Eisdiele in Pfaffenhofen, den "Casal". Während man sich im Lokal oder auf der kleinen überdachten Terrasse riesige Eisbecher schmecken ließ, lauschte die Jugend damals den Klängen aus der Musikbox. Immer wieder hörte man die neuesten italienischen Schlager wie "Arrivederci Roma", "Marina", "Ciao, ciao Bambina" – schmachtende Lieder, die von südlicher Sonne unter Palmen am Meer träumen ließen und die Sehnsucht nach "Bella Italia" weckten.

An der gegenüberliegenden Ecke zum Hofberg teilen seit einiger Zeit eine Textilpflege und eine Kleine Kneipe das Haus der früheren Metzgerei Schmidtner – ich erinnere mich noch an die besonders gute Streichwurst.

Schuhe zum Mitnehmen stehen am Gehsteig; stark reduziert – das Schuhhaus Holzmann macht auf sich aufmerksam. Im Jahr 1959 hatte hier der bekannte Pfaffenhofener Fotograf Hanns Wagner (Foto) sein Studio und sein Fachgeschäft eröffnet und führte es erfolgreich über mehrere Jahrzehnte hinweg. Im Eckhaus zur Löwenstraße war einstmals das Bekleidungsgeschäft der Familie Schätzl eine der ersten Adressen für die modebewusste Pfaffenhofener Männerwelt. Auch hier erlebte man nach dem Verkauf des Anwesens einen ständigen Wechsel der Ladeninhaber.

An der Einmündung der oberen Löwenstraße in die Ingolstädter Straße, zwischen Schätzl und Stegerbräu, stand einst mitten in der Fahrbahn der Löwenbrunnen. Ein steinerner, auf den Hinterpfoten aufrecht sitzender König der Tiere, auf einer hohen Säule thronend, damit er das emsige Treiben dort unten verfolgen konnte. Sein sich freudig nach oben ringelnder Schwanz zeigte, dass er Spaß daran fand. Mit seinen Vorderpranken hielt er das Stadtwappen von 1812 fest umklammert. Nachdem die Säule im Jahr 1949 von einem Lastwagen umgefahren wurde, musste der Löwe seinen Platz räumen. Jetzt sitzt er, sichtlich gealtert und gezeichnet von der Zeit, der Luftverschmutzung und seinen 170 Lebensjahren, im Rathausflur und bekommt dort das Gnadenbrot, während ein schwarzer Abguss auf einer Minisäule mit einem weit aufgerissenem, gierigen Maul im Brunnen am Gehsteig vor dem Stegerbräu seinen Platz einnimmt und dabei stolz das neue Stadtwappen präsentiert.

Nach der Kreuzung auf der rechten Straßenseite, direkt gegenüber vom Stegerbräu, befand sich einst die Freiberger-Wirtschaft, der "Lutherwirt", mit eigener Metzgerei. So manche Stadtbewohner werden sich noch an die Hungerjahre des Zweiten Weltkrieges erinnern. Damals konnte man sich in dieser Metzgerei an bestimmten Tagen Freibankfleisch aus Notschlachtungen ohne Lebensmittelkarten kaufen, wenn man die nötige Zeit und die Geduld aufbrachte, sich in die lange Warteschlange zu stellen. In den fünfziger Jahren bezog die Metzgerei Deller die Räumlichkeiten. Konrad Ertl folgte als Mieter mit einem Blumengeschäft, das er anschließend in eine Kunstgalerie umwandelte. Es folgte ein Schuhgeschäft und heute befindet sich dort das Immobilienbüro von Armin Fischer.

Matrosenanzug für Buben

Ich erinnere mich auch noch an den Herrenschneider Westermeier im nächsten Haus und an der Ecke zum Nussergässchen an das Fotoatelier von Otto Bauer – der durch seine politische Vergangenheit als Bürgermeister im Zweiten Weltkrieg unrühmliche Schlagzeilen machte. Im Besitz von Georg Haindl wurde das Anwesen in ein Kaufhaus umgewandelt. Ich glaube, im ersten Stock befand sich die Kinderabteilung mit Konfektionskleidung. Hier kaufte mir meine Mutter 1939 einen marineblauen Matrosenanzug, natürlich mit kurzer Hose. Das war damals die modische Festtagskleidung für viele Pfaffenhofener Buben.

Auf der anderen Straßenseite nach dem Stegerbräu im Gebäude der früheren Löwenapotheke, derzeit der Bombay Pizza-Express, eröffnete Anfang des 20. Jahrhunderts das erste Kinotheater der Stadt seine Pforten. In einer Programmanzeige aus dem Jahre 1912 entdeckte ich die Titel einiger Stummfilme, die damals gezeigt wurden: "Herzensgold", "Babylas und seine Braut" oder "Die schlaue Prinzessin und der reiche Kaufmann".

Vor der Einmündung der schmalen Grabengasse, die den einstigen Verlauf der mittelalterlichen Stadtmauer markiert, verengt sich die Ingolstädter Straße stark. Hier waren seit dem Jahre 1737 Schneider ansässig. An den Letzten dieser Zunft werden sich noch viele Pfaffenhofener erinnern: den "Renner Gag". Die Bevölkerung hatte nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem es Kleidung nur auf Bezugscheine gab, einen sehr großen Nachholbedarf und ließen sich beim Schneider Renner modisch neu ausstatten. Ab den 1960-er Jahren setzten sich nach und nach die großen Textilkonzerne mit ihrer fabrikmäßig gefertigten Kleidung durch und den Schneiderwerkstätten verblieben vielfach nur noch Änderungsarbeiten. Heute macht im Schaufenster des Anwesens die evangelisch-freikirchliche Gemeinde auf sich aufmerksam.

Bei der Straßenverengung, dort wo einst das Ingolstädter Tor stand, wirbt heute ein Reisebüro: "Thailand erwartet Dich – worauf wartest Du …". Früher wartete in dem Haus der Bader Klein auf männliche Kundschaft. Bis zum Abbruch des Tores im Jahre 1807 hieß dieser Straßenteil noch Rosengasse. Nordseitig an das Eckhaus ist ein 3,20 Meter breites Häuschen angebaut, das nur durch eine eigene Hausnummer als solches zu erkennen ist, man könnte es sonst glatt übersehen. Es ist das ehemalige Torwart- oder Pflasterzolleinnehmerhäuschen. Die Blütezeit der Zolleinnahme ist natürlich schon seit mehreren Generationen zu Ende. Man sollte den historischen Hintergrund vielleicht mit einer Hinweistafel wieder in Erinnerung bringen.

Bader und Konditor

Im Haus auf der anderen Seite der Ingolstädter Straße ist kürzlich ein Gesundheitszentrum eingezogen. Über viele Jahre war hier das Kleinwaren- und Stoffgeschäft von Sofie Schneider ansässig. Und noch früher betrieb in dem Anwesen der Bruder des Baders von Gegenüber, der Klein Karl, eine Konditorei. Im abzweigenden Nussergässchen steht links, nach einigen Metern, eines der letzten an die ehemalige Stadtmauer angebauten Häuser. 1814 wurde einer der 17 Mauertürme, der an dieser Stelle stand, abgerissen. Ich möchte es nicht unerwähnt lassen, weil in diesem brüchigen, engen Haus, hinter dem Fenster, das auf Kniehöhe verstohlen zur Ingolstädter Straße blickt, ein weiterer Schneider seine Werkstatt hatte. Der Schneidermeister Crusius. Einer von vielen, die damals in den fünfziger Jahren durch die Industrialisierung und die Massenproduktion in ihrem Handwerk keine Erwerbsmöglichkeit mehr sahen.

Viele werden sich noch – und da bin ich mir sicher – an das Breitner-Kino erinnern, das nach der Konditorei Klein an der Ecke zum Riederweg stand. Und unvergessen ist vor allem auch der Kinobesitzer Josef Breitner (Foto), der "Bewe", wie wir ihn nannten. Als in den ersten Nachkriegsjahren die noch unsynchronisierten, amerikanischen Filme mit deutschem Untertitel und zweimaliger Pause zum Spulenwechseln zur Vorführung kamen, standen wir damals noch Minderjährigen bei den Samstagnachmittagsvorstellungen in Gruppen auf dem Gehsteig und hofften auf Einlass. Zum Beginn der Vorstellung kam der Bewe ins Freie, klopfte bedächtig an die Tür des Vorführraumes und rief hinein: "Michl fang ma an!". Wir warteten geduldig, denn wir wussten, wenn keine weiteren Besucher mehr kommen und Plätze frei bleiben, gibt es noch eine Chance für uns. Und nach der Wochenschau, wenn der Spulenwechsel zu einer Pause zwang, schaute Bewes Glatzkopf durch die Tür, und wir hörten endlich die erlösenden Worte: "Kommt`s rein Buam!" Für 50 Pfennige schlüpften wir dann in die ach so herrliche Traumwelt des Films. Schon bald entsprachen das Platzangebot in dem kleinen Filmraum und die ungepolsterten Klappstühle nicht mehr den Erwartungen des Publikums. Der Breitner Bewe baute deshalb in der Löwenstraße gemeinsam mit Amalie Amberger ein neues, modernes Lichtspielhaus. Aus dem alten Breitner Kino wurde später das Möbelhaus Westermaier (Fortsetzung folgt).