Ingolstadt
Flüchtlingskrise in Ingolstadt: "Es hat toll funktioniert"

Für Sozialreferent Wolfgang Scheuer und Sozialamtsleiterin Christine Einödshofer war es eine Teamleistung

30.08.2020 | Stand 23.09.2023, 13:50 Uhr
Immer am Ball für Flüchtlinge: Sozialreferent Wolfgang Scheuer (Mitte), Musiker Andreas Hofmeir (rechts),Tobias Klein von der Ingolstädter Veranstaltungs-Gesellschaft (3.v.l.) und Flüchtlinge "weihen" bei einem spontanen Basketballspiel den neuen Korb in der Flüchtlingsunterkunft an der Marie-Curie-Straße ein. −Foto: Rössle/Stadt Ingolstadt

Ingolstadt - Als Kanzlerin Angela Merkel ihre berühmten drei Worte spricht, ahnt Sozialreferent Wolfgang Scheuer längst, dass da auch auf Ingolstadt etwas zukommen wird - etwas, das alles bisher Dagewesene sprengen würde. Heute, fünf Jahre später, lehnt sich der 65-jährige Sozialreferent (Freie Wähler) entspannt und zufrieden zurück und sagt: "Es hat toll funktioniert. Es war eine richtig gute Teamleistung." Ähnlich urteilt Sozialamtsleiterin Christine Einödshofer: "Wirklich jeder hat hingelangt, und wir waren nachher auch stolz, dass wir es geschafft haben."

Im Juli 2010, zu Beginn seiner Amtszeit, lebten in Ingolstadt nach Auskunft von Scheuer etwa zehn Asylbewerber - zuständig war für sie zunächst die Obdachlosenhilfe. "Am 6. November 2011 erhielten wir dann die erste Zuweisung von der Regierung von Oberbayern. Diese Menschen aus Südosteuropa habe ich noch persönlich in Empfang genommen", erinnert sich der Sozialreferent.

Ab 2014 kommen dann immer mehr Flüchtlinge nach Ingolstadt: Im Dezember sind es schon 863, mehr als doppelt so viele wie drei Monate zuvor. Im Sommer hatte man bereits das neue Sachgebiet Asylbewerberangelegenheiten geschaffen. "Die medizinische Versorgung und die Schaffung von Wohnraum standen an erster Stelle", so Scheuer. Doch wohin mit den Menschen? Die alten Gemeinschaftsunterkünfte waren längst abgebaut.

Ingolstadt macht sich bereit für die Aufnahme der Geflüchteten und ertüchtigt nicht genutzte Teile der Max-Immelmann-Kaserne; dort entsteht 2018 auch das umstrittene Ankerzentrum, Ankunft, Entscheidung, Rückführung für Flüchtlinge mit geringer Bleibeperspektive, wie es offiziell heißt. Zudem werden in Windeseile in Modulbauweise Unterkünfte an der Manchinger Straße, Marie-Curie-Straße und später an der Neuburger Straße errichtet. "Die sind alle noch in Betrieb", so Scheuer. Um Spitzen abzufangen, werden zudem auf dem Sportplatz in Gerolfing und am Hallenbad Zelte aufgestellt. "Es wäre schön, wenn ich den Gerolfinger Bürgern eine Goldmedaille für ihre Hilfsbereitschaft verleihen könnte", meint der 65-Jährige, der betont, in Ingolstadt sei nie eine Turnhalle geschlossen worden. Der Stand im September 2015: 1661 Flüchtlinge. Tendenz weiter steigend.

Die Ankunft und Aufnahme der Flüchtlinge stellt nicht nur für die Stadtverwaltung, sondern auch für die Stadtgesellschaft zunehmend eine Herausforderung dar. Der Sozialreferent erinnert sich an eine Versammlung im überfüllten Sportheim Gerolfing, wo Willkommenskultur und Protest aufeinanderprallen. Nach dem Aufruf, Kleidung zu spenden, karren die Ingolstädter ganze Fuhren zum Feuerwehrhaus Rothenturm, so dass die Aktion schon am ersten Wochenende wieder abgebrochen werden muss, weil die Lagerkapazitäten erschöpft sind. Scheuer: "Freiwillige waren tagelang im Apian-Gymnasium mit dem Sortieren beschäftigt."

Die Flüchtlinge kommen oft schubweise - per Notfallplan. "Da lastete ein enormer Zeitdruck auf uns", erinnert sich Einödshofer. Einmal sitzt Wolfgang Scheuer freitags beim Schafkopfen, da ruft die Regierung an und meldet für den folgenden Montag 90 Neuankömmlinge. "Wir haben zusammen mit Ehrenamtlichen ein ganzes Wochenende durchgearbeitet, und am Abend steigen nur 30 Leute aus dem Bus."

Im Januar 2016 wird mit mehr als 1800 Flüchtlingen ein Höchststand erreicht. Seitdem sinkt die Zahl beständig und hat sich bis heute bei etwas über 1000 Personen eingependelt - darunter immer mehr Türken.

Um eine Ghettoisierung zu vermeiden, sollen Asylbewerber mit Bleiberecht dezentral untergebracht werden, was sich als schwierig gestaltet angesichts der schon damals herrschenden Wohnungsnot. "Wenn mein Auto gesichtet wurde, rief sofort der Bezirksausschussvorsitzende an, ob ich in dem Stadtteil etwas suchen würde", berichtet Scheuer. "Man hat auch immer schauen müssen, dass der Mietpreis nicht durch die Decke schießt."

Hunderte Ehrenamtliche, deren Einsatz seit 2014 Barbara Blumenwitz koordiniert, helfen den Syrern, Afghanen und Irakern, den Geflüchteten aus Eritrea, Somalia oder Nigeria, sich in Ingolstadt zurechtzufinden: Es gibt Deutschkurse, Schwimmkurse, Radlkurse, die zumeist jungen Männer erfahren von Lehrkräften des Marienheims, wie man den Müll korrekt trennt, wie man putzt oder Energie spart. Auch der Umgang mit Frauen und dem Thema Gleichberechtigung will geübt sein - darum kümmern sich auch die Disko-Paten. Etliche Geflüchtete absolvieren Schulabschlüsse und Berufsausbildungen. Einödshofer: "Die Leute hatten ja unterschiedliche Voraussetzungen: Da gab es Studierte, andere hatten nur ein paar Jahre die Koranschule besucht."

"Es ist wirklich viel passiert", fasst Scheuer diese schwierige Phase zusammen, "aber wir sind einigermaßen gut durch diese Zeit gekommen." Dabei spielt die Vereinbarung der Politik, das Thema nicht zu instrumentalisieren und auszuschlachten, nach Ansicht des Referenten eine wichtige Rolle. Fragen werden am Runden Tisch geklärt, nicht öffentlich.

In diesen fünf Jahren habe er das Wort "Krise" bewusst vermieden, betont Scheuer. "Ich wurde vielfach angegriffen, erhielt Drohbriefe, und meine Garage wurde mehrmals mit Eiern beworfen. Dabei habe ich mir diese Aufgabe wahrlich nicht ausgesucht, aber sie zu erfüllen war selbstverständlich für mich. Unser Bestreben war, für die ankommenden Flüchtlinge menschenwürdige Verhältnisse zu schaffen. Ich denke, das haben wir erreicht."

DK

Suzanne Schattenhofer