Ingolstadt
Fantastisches Figurenkabinett

Die Pianistin Gabriela Montero improvisiert bei den Audi-Sommerkonzerten nach Themen des Publikums und wird gefeiert

03.07.2017 | Stand 02.12.2020, 17:50 Uhr

Kommunikation zwischen Publikum und Künstlerin: Gabriela Montero lässt sich vom Publikum Themen vorsingen. - Foto: Sauer

Ingolstadt (DK) Wann ist jemand ein Genie? Vielleicht dann, wenn er oder sie eine Fähigkeit besitzen, die vollkommen (oder nahezu vollkommen) einzigartig ist. Die Pianistin Gabriela Montero ist so ein lebendes Wunder. Sie ist die einzige klassisch orientierte Pianistin von Rang, die öffentlich improvisiert - also eine Tradition fortsetzt, die noch vor hundert Jahren vollkommen gewöhnlich war.

Mit großer Selbstverständlichkeit haben die großen Klavierkomponisten von Beethoven bis Liszt, von Bach bis Mozart, bei ihren Konzertauftritten aus dem Stegreif musiziert - ohne, dass diese Auftritte besonders wichtig genommen wurden.

Das ist bei Gabriela Montero anders, ihr Talent zur Improvisation ist legendär. Sie lässt dabei gerne das Publikum mitwirken. Ihre Regeln sind allerdings streng: Die Melodie sollte vorgesungen werden und möglichst allgemein bekannt sein. Gleich zu Beginn ihres Konzerts bei den Audi-Sommerkonzerten im Ingolstädter Festsaal weist sie ein Motiv aus ihrer Heimat zurück: "Kennt das jemand", fragt sie, aber es kommt keine rechte Antwort.

Also etwas ganz Gewöhnliches: Eine Frau aus dem Publikum schlägt das Volkslied "Fuchs, du hast die Gans gestohlen" vor. Kaum erklingen die ersten Töne, singt fast der ganze Saal mit. Montero ist verblüfft. Sie begrenzt das Motiv auf wenige Töne, wiederholt es nachdenklich ein paarmal auf dem Klavier - und plötzlich deutet sie es um, spielt es in Moll, es verliert auf diese Weise seinen grellen Witz, wirkt ernsthafter, weniger kindlich. Und ist nun Grundlage einer barocken Paraphrase. Fast wie eine Fuge beginnt das Stück, immer wieder taucht das Thema umspielt von anderen Figuren und Engführungen auf. Am Ende gelingt ihr eine Art Verlangsamung des Motivs in der rechten Hand, während links in Oktaven eine Variante des Grundthemas die Hauptmelodie begleitet: Was für ein grandioser Gedanke! Das Publikum rast vor Begeisterung.

Aber das stilistische Repertoire von Montero geht weit über die Barockzeit hinaus. In ihrer zweiten Improvisation geht sie von der Melodie von "Lady In Black" von Uriah Heep aus, ein Thema, das ihr offenbar völlig fremd ist. Entsprechend ungenau ist ihre Improvisation, ein milde schimmerndes impressionistisches Werk, das die Grundmelodie nur wenig verarbeitet. Viel besser gelingt die nächste Improvisation über Beethovens "Freude, schöner Götterfunken": Nach einer freien, zart-melodischen Einleitung, taucht plötzlich das Thema fast überraschend auf und verschmilzt mit dem selbst gewählten Motiv. Und dann vielleicht der Höhepunkt des Abends: Ein Stegreifspiel nach "Summertime" (Ella Fitzgerald). Das Stück beginnt wie eine Chopin-Mazurka, klingt bald ein wenig nach Rachmaninow oder Skrjabin und entwickelt sich schließlich zu einer Art Ragtime.

Der Einfallsreichtum, die Fantasie, mit der Montero improvisiert, ist absolut verblüffend. Es gibt Momente, bei denen man trauert, dass sie nicht für die Ewigkeit festgehalten werden. Aber natürlich handelt es sich nicht um sorgfältig ausgeklügelte Musik. Der Ablauf ist rhapsodisch, manchmal abwegig, gelegentlich komisch oder überraschend, stets jedoch höchst unterhaltsam. Der Spaß liegt darin, der spontanen Erfindungsgabe zu folgen, zu beobachten, was alles aus einem Motiv entstehen kann, bis hin zu überraschenden Fugen, Engführungen, Variationen. Dabei geht Montero keineswegs kompositorisch und stilistisch neue Wege. Sie verlässt niemals das Umfeld der romantischen Harmonik und Formensprache. Ihre Stücke sind wie ein Reflex auf die goldene Ära der Klaviermusik von Bach bis Rachmaninow. Also genau die Musik, die sie als ganz normale Konzertpianistin auch vorträgt.

Etwa im ersten Teil ihres Konzerts in Ingolstadt. Das eröffnet sie mit der "Chaconne" von Johann Sebastian Bach in der berühmten Bearbeitung von Busoni. Montero erweist sich dabei im besten Sinne als romantische Virtuosen-Natur in der Tradition der großen Pianisten des 20. Jahrhunderts. Ihre "Chaconne" ist volltönend, mit großer Pranke und noch größerem Pathos herausgemeißelt: In den zentralen Passagen donnert der Flügel laut, warm und farbig wie ein Symphonieorchester. Dann wieder nimmt sie das Tempo zurück, gestaltet mit großer Ruhe die Variationen so innig, wie wenn eine einsame Oboenstimme vor zarten Streichern tönen würde. Fast genauso grandios das zweite Stück, Robert Schumans Zyklus "Carnaval". Wie in den Improvisationen kann Montero sich hier spielerisch musikalisch verkleiden und in andere Identitäten schlüpfen: von Komponisten wie Paganini oder Chopin bis hin zur Verlobten Ernestine von Fricken und den Kunstfiguren Eusebius und Florestan. Ein skurriles Figurenkabinett, hinreißend romantisch-virtuos, verblüffend lebendig gestaltet. Eine augenzwinkernde, musikalische Faschingsparty einer genialischen Musikerin.