Kelheim
Familienidylle oder Streitherd?

Wenn sich das soziale Leben wegen Corona mehr in den eigenen vier Wänden abspielt, ergeben sich Chancen und Probleme

27.03.2020 | Stand 23.09.2023, 11:24 Uhr
Zeit zum Vorlesen oder Raum für Streitereien: Der Rückzug in die eigenen vier Wände kann beides bedeuten. −Foto: Julian Stratenschulte/dpa, Jan-Philipp Strobel/dpa

Kelheim/Neumarkt - Für viele Berufstätige steht Homeoffice auf dem Plan, Schüler erledigen ihre Arbeiten daheim: Das soziale Leben wird heruntergefahren.

 

Paare und Familien verbringen daher mehr Zeit als gewöhnlich gemeinsam in den eigenen vier Wänden.

Diese zusätzliche Nähe kann einen Vorteil bedeuten. "Eine Chance sehe ich darin, dass sich der Alltag der Familien aufgrund wegfallender Termine entschleunigt", erklärt Martina Moritz von der Psychologischen Beratungsstelle für Ehe-, Familien- und Lebensberatung Neumarkt. Jeder könne für sich oder zusammen mit seiner Familie Beschäftigungen nachgehen, die im normalen Alltag in Vergessenheit geraten. "Beispielsweise in der Familie wieder einmal Brettspiele spielen, etwas basteln, im Garten Fußball spielen oder auch ein Buch zur Hand nehmen", führt Moritz aus.

Um sich schnellstmöglich in die neue Situation einzufinden, hat Moritz einige Tipps: "Dem Tag einen strukturierten Ablauf geben, gemeinsame Zeiten einplanen und Zeiten, Räume beziehungsweise Ecken für individuellen Rückzug. " Außerdem empfiehlt sie, in diesen außergewöhnlichen Wochen besonders feinfühlig miteinander umzugehen. Bei Schwierigkeiten im neuartigen Zusammenleben könnten sich Betroffene auch Hilfe holen - beispielsweise direkt in Neumarkt (siehe eigener Artikel).

 

Ein anders Bild zeichnet Josef Doni. Er ist der Außenstellenleiter des Weißen Rings in Kelheim - einer Ansprechstation für Gewaltopfer. Für Doni birgt die Beschränkung des Lebens auf die eigenen vier Wände durchaus gesteigertes Konfliktpotential. "Sich mal auf die Nerven zu gehen, ist menschlich. Aber mit jemandem viel daheim zu sein, von dem man grundsätzlich genervt ist, ist problematisch", sagt Doni. Er betont ausdrücklich, dass aufgrund der neuen Nähe durch Corona nicht plötzlich alle Männer - oder auch Frauen - gewalttätig werden. Jedoch schaffe die vermehrte Zeit zu Hause zusätzlichen Rahmen für Gewalt, falls Partnerschaften oder Familien grundsätzlich davon betroffen sind.

Bisher bekomme der Weiße Ring nicht mehr Anrufe bezüglich solcher Probleme als sonst. "Aber vielleicht ist die Coronakrise noch zu frisch, die Welle erst im Anlaufen und es kommen doch noch mehr Anfragen", überlegt der Leiter. Für Opfer häuslicher Gewalt sind auch in Zeiten des Virus die Leitungen des Weißen Rings offen (siehe eigener Artikel). Für Nachbarn, die nebenan Handgreiflichkeiten bemerken, hat Doni einen Tipp: "Wer die Nachbarn besser kennt, kann sie anrufen oder über das Handy per WhatsApp in Verbindung treten. " Außerdem sei es möglich, unter dem Vorwand Mehl, Eier oder andere Backzutaten zu benötigen, nebenan zu läuten. "Eine Unterbrechung durch Klingeln kann hilfreich sein und so kann man nach dem Rechten sehen", erklärt Doni.

Auch die sogenannte Frauenhauskoordinierung macht auf Streit- und vor allem Gewaltherde, die sich in Zeiten des Coronavirus verschärfen können, aufmerksam: "Die Maßnahmen zur Bekämpfung des Corona-Virus führen zu erheblichen familiären Belastungen. Viele Menschen sind im Homeoffice, die Betreuung von Kindern wird zu Hause realisiert, zunehmende familiäre Konflikte sind zu erwarten", vermeldet die Organisation in einer Pressemitteilung. Sie vereint unter ihrem Dach zahlreiche bundesweite Wohlfahrtsverbände wie den AWO Bundesverband oder die Diakonie Deutschland - Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung. Die Frauenhauskoordinierung weist außerdem darauf hin, dass sich durch Quarantänemaßnahmen und Einschränkungen des Soziallebens die Auswege für Frauen aus von Gewalt belasteten Haushalten erschweren. Dadurch können sie sich schwieriger bei Verwandten oder Freunden in Sicherheit bringen.

Bayerns Sozialministerin Carolina Trautner will Kinder, Eltern und Fachkräfte in dieser schwierigen Situation gewaltpräventiv unterstützen, wie sie in einer Pressemitteilung bekannt gibt: "Wenn die gewohnten Strukturen und der sichere Alltag wegfallen, ist dies für Kinder und ihre Bezugspersonen eine belastende Situation. Die Coronakrise kann auch zu Krisen in Familien führen - Wir lassen Kinder und Eltern nicht allein. " Das Jugendhilfesystem leiste hervorragende Arbeit. Um Familien und auch die Fachkräfte in der derzeitigen Situation zusätzlich zu unterstützen, habe das Bayerische Sozialministerium kurzfristig den Aufbau eines ergänzenden bayernweiten Unterstützungsangebots beschlossen. "Ich freue mich, dass ich die AETAS Kinderstiftung für den Aufbau einer Kinder-Krisen-Intervention und einer Telefonhotline im nächsten halben Jahr mit rund 135000 Euro unterstützen kann. Denn präventive Unterstützung ist der beste Ansatz, um Eskalation zu verhindern", schildert Trautner.
Die AETAS Kinderstiftung - mit Niederlassung in München - bietet ab sofort mit ihrem neuen Projekt für Kinder, Familien und Fachkräfte eine telefonische Krisenberatung (siehe eigener Artikel) und darüber hinaus Infomaterial sowie Handreichungen zum Download auf ihrer Homepage www. aetas-kinderstiftung. de. Außerdem berät sie online. Die Kinderstiftung plane zusätzlich nach der Pandemie Familien beim Übergang in den normalen Alltag zu begleiten und ihnen bei auftretenden Schwierigkeiten zu helfen.

DK

Laura Schabenberger