Wutanfall
Familie Vollgas

04.10.2013 | Stand 02.12.2020, 23:35 Uhr

Benzin im Blut: Die Leidenschaft von Familie Guist aus Kösching sind Motorräder der Marke Ducati. Dass Marina, Jürgen, Robin und Andi (von links) echte Biker sind, zeigt sich auch an ihrem Körperschmuck: Bis auf Vater Jürgen sind alle an den Armen aufwendig tätowiert. Auf Robins Haut prangt sogar das Ducati-Logo, umrahmt von einem Lorbeerkranz – dem Symbol für Sieg. - Foto: Oppenheimer

Wutanfall oder Weinkrampf. Eines von beiden dürften die meisten Ehefrauen mit Sicherheit bekommen, wenn Mann und Sohn das Motorrad im Winter zur Reparatur ins Wohnzimmer schieben. Vor allem, wenn es sich nicht nur um ein Bike handelt, sondern gleich um vier. Und spätestens wenn dafür auch noch die Couch weichen muss, wäre der Nervenzusammenbruch programmiert. Könnten die das nicht in der Garage machen? Viel zu kalt für die wertvollen Schätzchen. Die vier hochgezüchteten Ducatis haben teils den Wert eines üppig ausgestatteten Kleinwagens. Außerdem schraubt es sich nicht gut mit klammen Fingern.

Ein Glücksfall, dass Marina Guist (42) aus Kösching nicht wie andere Ehefrauen ist. Machen sich Gatte Jürgen (43) und die Söhne Andi (24) und Robin (20) daran, die italienischen Stahlrösser in Sichtweite des Esstischs zu zerlegen, schaut die zierliche Blondine entspannt zu. Schließlich wird ja auch ihr Geschoss für die nächste Rennsaison fitgemacht. Wie bitte? Rennen? Ja. An mindestens fünf Wochenenden im Jahr geben die Familienmitglieder auf europäischen Rennstrecken in Amateurrennen Gas. Manchmal fahren sie sogar gegeneinander. „Wenn ich richtig viel Geld hätte, würde ich meinen eigenen Rennstall aufmachen“, sagt Marina. „Am liebsten würde ich auf der Rennstrecke wohnen.“

Der Keller als Reifenlager, das Wohnzimmer als Werkstatt – für Jürgen ist das kaum zu toppen: „Das ist so schön: Du stehst morgens auf, gehst die Treppe runter und kannst gleich anfangen zu schrauben.“ Vier Motorräder mit insgesamt 600 PS warten bei den Guists auf ihren Einsatz: Zwei Panigale 1199 S (jeweils 200 PS), eine davon ist speziell für die Rennstrecke hergerichtet, im öffentlichen Straßenverkehr ist sie nicht zugelassen. Dazu noch eine Hypermotard und eine Monster 1100, beide mit jeweils 100 PS. Für ein Auto keine mächtige Motorisierung, für ein Motorrad schon. Schließlich wiegt es nur den Bruchteil eines Pkw.

Motorradfahren ist für die Guists mehr als ein Hobby. Die Marke Ducati ist ihre Leidenschaft, eigentlich ihr Leben. Diese Begeisterung kann nur nachvollziehen, wer selbst Motorrad fährt. Die italienische Zweiradschmiede ist so etwas wie Ferrari oder Bugatti für Autofans. Eine Ducati ist nichts für jedermann: Zweizylinder-Motor, Trockenkupplung – eine zickige Diva. „Es klappert, es rasselt und manchmal gehen die Gänge schwer rein“, sagt Jürgen Guist. „Aber das ist genau das, was wir mögen. Das Außergewöhnliche macht den Reiz aus.“

Ferien im Liegestuhl – so etwas gibt es bei den Guists nicht. Wenn sie gemeinsam wegfahren, dann geht es auf die Rennstrecke. Drei Bikes samt Material passen in ihren VW-Bus, hinten wird der Wohnwagen angehängt. „Das ist unser Urlaub“, sagt Marina, die bereits seit fünf Jahren Großmutter ist. Die Enkelin (natürlich auch längst mit einem Spielzeugmotorrad ausgestattet) verdankt sie ihrem Sohn Andi.

Die Rennwochenenden gehen ins Geld. Allein die Startgebühr beträgt zwischen 500 und 600 Euro – pro Person. Bereits nach einem Rennen sind die Reifen reif für die Tonne – ein Satz neuer Gummis schlägt ebenfalls mit bis zu 500 Euro zu Buche. Selbst wenn sie in einem Rennen ganz vorne landen, kommt das Geld nicht wieder rein. Es gibt einen Pokal. Und die Ehre.

Leisten können sie sich das nur, weil sie alle gute Jobs haben. Jürgen und Robin arbeiten bei Audi im Werkzeugbau. Nachtschicht, oft sechs Tage die Woche. Ein Großteil des verdienten Geldes wird direkt wieder investiert – beim Ingolstädter Ducati-Händler. Prima angelegt, finden die beiden. Denn wer in den Rennen vorne dabei sein will, braucht nicht nur eine ordentliche Portion Talent, sondern auch erstklassiges Material. Der Händler ist mittlerweile ein enger Freund geworden – nicht nur, weil die Guists gute Kunden sind. Auch er lebt für die Marke, fährt selbst Rennen.

Bis auf komplizierte Motorreparaturen machen Vater und Söhne alles selbst. Verbissen kämpfen sie um jedes Zehntel Rundenzeit. „Wir machen den Schwung leichter, setzen die Verdichtung hoch, polieren die Zylinderköpfe“, sagt Jürgen und grinst dabei. „Dann geht die Kiste richtig gut.“

Doch das Risiko fährt immer mit. Viermal hat sich Jürgen bereits bei Stürzen das Handgelenk gebrochen, mindestens fünfmal eine Rippe, einmal den Fuß. Zuletzt barst bei einem unsanften Abstieg das Schlüsselbein. Jürgen zieht mit dem Zeigefinger sein Shirt ein wenig zu Seite und deutet auf die Stelle mit der Narbe. „Da ist jetzt eine Metallplatte drin.“ Der Familienvater fährt weiter, lässt es seitdem aber langsamer angehen.

Sohn Robin gibt dafür umso mehr Gas. Auf dem Pannonia-Ring in Ungarn belegte er im vergangenen Jahr von 45 Startern den achten Platz, fuhr die siebtschnellste Rundenzeit. „Ich habe Blut geleckt“, sagt der 20-Jährige. Er will nun weiter hart trainieren. Sein Ziel: In der Internationalen Deutschen Meisterschaft (IDM) mitfahren. Doch das übersteigt die finanziellen Möglichkeiten der Familie. Jetzt ist er auf der Suche nach Sponsoren.

„Es ist einfach ein wahnsinniges Gefühl, wenn man spürt, wie die 200 PS angreifen“, sagt Robin. Erst kürzlich war die Familie auf der Rennstrecke Mugello in Italien. „Auf der Geraden bist du nach 800 Metern auf 300 Sachen.“ Robin kann nicht genug bekommen. Doch auch ihn wirft die Ducati gelegentlich ab. An seinem linken Arm zeugt eine dicke Schorf-Schicht vom letzten unfreiwilligen Abstieg. Bis jetzt musste er noch bei fast jedem Rennen schmerzhaftes Lehrgeld zahlen. Doch Robin weiß, dass alles seine Zeit braucht: „Es ist eine Kunst, schnell zu werden.“

Sein Bruder Andi dagegen hat den Lederkombi vor einigen Jahren an die Wand gehängt. Mit 18 hatte er einen heftigen Sturz. Seitdem war er nicht mehr auf der Rennstrecke. „Dafür hat er sich jetzt ein schnelles Auto gekauft“, sagt Papa Jürgen. „Da kann er wenigstens nicht runterfallen“, witzelt Mama Marina. Und alle lachen.

Dass es wohl nicht viele Familien wie sie gibt, darüber sind sich die Köschinger bewusst. „Ich kenne keine Oma, die auf der Rennstrecke fährt“, sagt Jürgen Guist. Seine Frau ist etwas empört: „Schau’ ich etwa aus wie eine Oma“ Nicht wirklich. Trotzdem dürfte Marina zu den schnellsten Omas auf Deutschlands Straßen gehören.

Anfangs rieben sich die Nachbarn noch verwundert die Augen, wenn die Guists am Wochenende vor ihrem Haus die Flagge mit der „46“ hissten. Inzwischen wurden sie darüber aufgeklärt, dass dann ein Moto-GP-Rennen stattfindet. Die „46“ ist die Startnummer von Valentino Rossi, Marinas großem Idol. An der Wohnzimmerwand hängt ein Foto des Italieners. Auf seiner Schulter ist eine Hand zu erkennen. „Das ist meine“, sagt Marina voller Stolz. Ihr größter Schatz ist aber ihr Lederkombi mit dem Autogramm des Motorrad-Superstars.

Gleich neben dem Esstisch hängt eine lange handschriftlich geführte Liste. Dabei handelt es sich nicht etwa um den Putzplan. Es ist eine Wettliste. Vor jedem Moto-GP-Rennen stecken Jürgen, Marina und Robin jeweils zehn Euro in ein Sparschwein, und jeder tippt auf die Platzierungen. Wer am Ende des Jahres am öftesten richtig lag, bekommt das Geld. 500 Euro sind das dann etwa. Nicht nur die Rennen verfolgen sie mit Spannung, sondern auch das Training. Mama Marina zeichnet es sogar auf.

Im November reist die Familie nach Mailand. Eigentlich das Mekka der Mode. Doch die Guists interessieren sich nicht für schicke Schnitte in Textil, sondern in Blech. Dann findet dort die Esposizione Internationale del Motociclo (EICMA) statt. Die größte Motorradmesse der Welt. Hier schauen sie nach neuem Material.

Das Hobby hält die Familie zusammen. „Ich finde es super, dass wir alle eine Leidenschaft teilen und noch immer gemeinsam durch die Welt reisen“, sagt Robin. Zumindest in der Nachbarschaft kennt sie fast jeder. „Zu uns sagen sie ja schon: ,die Ducati-Familie’.“

Im Oktober feiern Jürgen und Marina Silberhochzeit. Eigentlich die ideale Gelegenheit, auf ein gemütlicheres Motorrad umzusteigen. Eine Honda Goldwing vielleicht? „Um Gottes Willen!“, sagt Marina und macht ein entsetztes Gesicht. „Das geht ja gar nicht. Das ist ja eine fahrende Couch!“