''Es ist ein Mythos und bleibt ein Mythos''

Annäherungen an ein ewiges Rätsel: Gespräche in der Hinterkaifeck-Ausstellung im Polizeimuseum

06.11.2016 | Stand 02.12.2020, 19:05 Uhr
Tatortbesichtigung: Ausstellungsbesucher Stefan Staudigl am Samstag vor einem Modell des Bauernhofs, auf dem 1922 sechs Menschen ermordet wurden. Hinter ihm das bekannte Hinterkaifeck-Aquarell von Konrad Müller. −Foto: Hammer

Ingolstadt (DK) Er ist schon oft in der Nähe des Tatorts mit dem Auto unterwegs gewesen, wissend, was dort im Schrobenhausener Land in der Nacht zum 1. April 1922 Schreckliches geschehen ist. „Aber angehalten habe ich noch nie“, erzählt Eduard Schuster (26) aus Neuburg. Es könnte indes sein, dass seine Freundin demnächst anregt, die Stelle zu besuchen, an der bis 1923 der Hof stand, auf dem die Morde geschahen, denn Kim Nadler (21) interessiert sich sehr für diesen Fall, „und für Krimis allgemein“.

Christine Mayer ist Mitglied des Aufsichtsteams und hat damit ihren Traumjob gefunden, denn der geheimnisvolle Mord begleitet sie schon seit ihrer Kindheit. Die 60-Jährige stammt aus Berlin. Jedes Jahr um Allerheiligen war sie bei der Verwandtschaft in Reichertshofen zu Besuch. „Ich erinnere mich, dass die Erwachsenen irgendwann ganz leise geworden sind und sich gruselige Dinge über einen Ort namens Hinterkaifeck erzählt haben. Da wurden meine Ohren immer größer und größer, und meine Neugier ist gewachsen.“ Sie begann, sich mit dem Fall zu beschäftigen, erzählt sie. Täglich kreisen ihre Gedanken um die Frage: „Wer hat das getan?“ Wer bringt sechs Menschen um, darunter ein siebenjähriges Mädchen und einen zweieinhalbjährigen Buben? Was um alles in der Welt ist damals in Hinterkaifeck bloß passiert?

Vor 40 Jahren zog Mayer nach Bayern – ganz in die Nähe des Tatorts. Und kam so dem Vermächtnis der ermordeten Bauernfamilie und ihrer Magd näher. „Es ist ein einzigartiger Fall mit so vielen unheimlichen Details.“ Etwa das mit den Schädeln der Toten, die bei der Obduktion abgetrennt wurden und später von der Polizei – das muss man sich heute mal vorstellen! – zu zwei (selbst ernannten) Hellseherinnen nach Nürnberg geschickt wurden, auf dass sie mit ihren übersinnlichen Kräften im Bunde auf den Täter stoßen; natürlich misslang dieser makabre Blödsinn.

Christine Mayer sinniert auch gern über die Theorie, dass Karl Gabriel, Ehemann des Opfers Viktoria Gabriel, nicht 1914 an der Westfront gefallen sei, wie offiziell gemeldet, sondern zunächst unerkannt zurückkehrte und zum Mörder wurde, weil er die „Blutschande“ (seine Frau und deren Vater waren wegen Inzests vorbestraft) rächen wollte. „Psychologisch gesehen halte ich das für denkbar“, sagt Mayer. „In dem Mann könnte eine innere Explosion stattgefunden haben, als er das kleine Kind gesehen hat.“ Beweisen lässt sich nichts mehr, aber das „Herumphilosophieren über das Mystische, das ewig Geheimnisvolle in einer hektischen Welt“, wie sie es nennt, gehöre einfach dazu und erkläre, warum der Mord immer noch so viele Menschen in seinen Bann zieht. „Hinterkaifeck“, sagt Christine Mayer, „ist wie ein großes Paket, aus dem sich jeder das herausholen kann, was ihn interessiert.“

Manchmal, wenn in der Ausstellung gerade weniger los ist, vertieft sie sich in die große Erinnerungscollage des Krieger- und Soldatenvereins Waidhofen. Dann schauen sie mehr als hundert Gesichter von Teilnehmern des Ersten Weltkriegs an, alle aus der Gegend um Hinterkaifeck, darunter Karl Gabriel. Kreuze zeigen, dass fast die Hälfte der Männer gefallen ist. „Ich frage mich dann immer: Wie hängt ihr zusammen? Wer von euch könnte noch mit dem Fall zu tun haben? Wer könnte etwas gewusst haben?“ All das bleibt ein ewiges, auf unheimliche Art faszinierendes Mysterium.

Auch Stefan Staudigl ist von der Schau beeindruckt. Der Ingolstädter ist seit Kurzem ein Neu-Neuburger, da begegne ihm das Thema Hinterkaifeck immer wieder, erzählt er. Staudigl ist damit gut vertraut. Er kennt natürlich die Bücher von Peter Leuschner über den Mord und liest auch die Hinterkaif?eck-Serie im DK. „Der Fall ist so interessant, weil er ungelöst ist und viele Fragen offen sind. Zum Beispiel das mit dem Geld. Man hat damals geglaubt, es sei ein Raubmord gewesen, und dann findet man im Haus eine hohe Summe Goldmark. Warum hat der Täter das nicht entdeckt?“ Auch die Ermittlungsmethoden interessieren ihn. Sie sind in der Ausstellung, die den Fall aus der damaligen Perspektive der Polizei schildert, authentisch dokumentiert. Und so schreitet Stefan Staudigl von Raum zu Raum, über die große Frage sinnierend: Wie könnte es damals gewesen sein?

Auch Gerda Rothedl vom Aufsichtsteam bewegt der Fall seit ihrer Kindheit. „Meine Oma in Münchsmünster hat mir davon erzählt, sie war Jahrgang 1894 und hat damals natürlich viel mitbekommen.“ Auch die Angst einiger Leute in der Umgebung, „dass sie als Täter verdächtigt werden, denn es ist oft zu Rufmord gekommen“. Eine Besucherin habe ihr erzählt, aus der Familie eines Bäckers zu stammen, der zusperrte und wegzog, weil er die Beschuldigung, er sei es gewesen, nicht mehr ertragen hat. Eine der vielen traurigen Geschichten rund um diesen Fall. „Hinterkaifeck ist ein Mythos und bleibt ein Mythos“, sagt Gerda Rothedl.

Oder auch nicht. Wer weiß, sagt sie, vielleicht gibt es dieses ominöse versteckte Dokument, über das immer geraunt wird, ja wirklich. Ein Geständnis, das alles aufklärt. Auch diese vage Hoffnung gehört zum Mysterium Hinterkaifeck und nährt dessen düstere Faszination.