München - Adolf Hitler steht auf dem Balkon des Braunen Hauses und blickt zufrieden auf die Menschenmenge unter sich - tonlos, und doch hat man seine bellend-schnarrende Stimme sogleich im Ohr.
Es ist ein schauriger Anblick, der angesichts der Menschenleere hier im NS-Dokumentationszentrum noch viel gespenstischer wirkt. Knapp 750000 Menschen haben das Münchner Museum seit seiner Eröffnung 2015 besucht. Sie alle sind im Eingangsbereich an jener Betonwand vorbeigelaufen, auf der ein Kurzfilm über die Geschichte des Hauses projiziert wird - inklusive der Hitler-Bilder vom Balkon.
Im Hier und Jetzt jedoch ist keine Menschenseele zu sehen; lediglich ein Bauarbeiter ist vorhin die Treppe hinaufgehuscht. Denn auch das NS-Dokumentationszentrum ist aktuell wegen der Corona-Krise geschlossen. "Ich hoffe", sagt Direktorin Mirjam Zadoff wenig später in ihrem Büro, "dass wir Mitte Mai wieder aufmachen können" - dann voraussichtlich unter gesonderten Sicherheitsvorkehrungen. Und so zerbricht sich die 46-Jährige derzeit den Kopf über Besucherlimits und Mindestabstände, was ihr zumindest dabei helfen dürfte, nicht allzu oft an den heutigen Donnerstag zu denken. Denn da wollte das NS-Dokumentationszentrum - eröffnet am 70. Jahrestag der Befreiung Münchens - seinen fünften Geburtstag feiern. Eigentlich.
Einer der vielen Programmpunkte, die abgesagt werden mussten, war ein Rundgang unter dem Titel "München und der Nationalsozialismus" - was einen direkt zur Geschichte des Museums bringt. Und zu seinem Standort: just an jener Stelle, wo einst das Braune Haus stand, das Hauptquartier der NSDAP. Gegründet wurde die Partei vor hundert Jahren im Hofbräuhaus, also im Herzen von München, das Hitler später "Mekka" nannte, "Hauptstadt der deutschen Kunst" und natürlich vor allem: "Hauptstadt der Bewegung". SS, SA und Hitlerjugend - all diese Nazi-Organisationen entstanden in München. Und hier baute die NSDAP rund um den Königsplatz auch ein weitläufiges Verwaltungszentrum auf, das zu Hochzeiten 68 Gebäude für circa 6000 Mitarbeiter umfasste.
München und den Nationalsozialismus verbindet also eine besondere Beziehung. Umso mehr erstaunt es, dass das NS-Dokumentationszentrum nun erst seinen fünften Geburtstag feiert. "Deutschland hat lange gebraucht, um sich mit seiner schwierigen Vergangenheit auseinanderzusetzen", sagt Mirjam Zadoff. "Und in München war man damit noch etwas langsamer. " Wobei einige engagierte Bürger schon 1989 die Errichtung eines Ortes forderten, der sich kritisch mit der NS-Geschichte der Stadt beschäftigt.
Zu ihnen zählte auch Winfried Nerdinger, der spätere Gründungsdirektor des NS-Dokumentationszentrums. Er konstatierte 2015, als das Museum nach jahrzehntelangem Hin und Her eröffnet wurde: "Ganz generell kann man sagen, dass München sich schwerer getan hat als alle anderen Städte in Deutschland, weil es auch mehr mit der Geschichte behaftet war als jede andere Stadt. Hier ist alles entstanden. "
Was hier entstanden ist und wie dies vonstattenging, das will das NS-Dokumentationszentrum in seiner Dauerausstellung zeigen. Und auch: "Was hat das mit mir zu tun? ", sagt Mirjam Zadoff. "Das ist die Leitfrage bei der Arbeit unseres Hauses. " Los geht's im vierten Stock mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Aufstieg der NSDAP, die schon früh Unterstützung aus dem Münchner Bürgertum erhielt. "Dieses Bild hier finde ich besonders eindrücklich", sagt Mirjam Zadoff und zeigt auf ein Foto, das bei einer Parteiveranstaltung im Bürgerbräukeller entstanden ist. "Da sitzen nicht nur Kriegsverlierer und Kriegsveteranen im Publikum, sondern das Münchner Bürgertum und auch viele junge Frauen. Das ist ein Abbild der Münchner Gesellschaft dieser Zeit. "
Eine Etage tiefer beschäftigt sich die Ausstellung mit der Machtergreifung durch die Nazis ab 1933, ehe im zweiten Stock die Gräuel des Zweiten Weltkriegs folgen - in München und darüber hinaus. Die erste Etage widmet sich schließlich der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit nach 1945. Auch hier gibt es - so wie in der ganzen Ausstellung - zahllose Fotos und einige Filme, vor allem aber viel Text, der eine Masse von Informationen vermittelt. "Zwei Stunden reichen sicher nicht aus, um die Dauerausstellung in ihrer Gesamtheit zu erfassen", sagt Mirjam Zadoff. Auch deshalb ist sie froh, dass der Eintritt seit einem Jahr kostenfrei ist - und es auch bleiben wird, wie der Stadtrat kürzlich beschlossen hat.
Neben der Dauerausstellung zeigt das NS-Dokumentationszentrum eine Wechselausstellung im Parterre. Voraussichtlich noch bis Ende September ist unter dem Titel "Tell me about yesterday tomorrow" zeitgenössische Kunst zu sehen, die sich mit der Erinnerungskultur auseinandersetzt. Die Schau steht beispielhaft für das Bemühen von Mirjam Zadoff, die das Haus seit 2018 leitet, bei den jährlich circa 100 Veranstaltungen und den Wechselausstellungen den Blick nicht nur in die Vergangenheit, sondern auch aufs Heute zu richten. Dass die Arbeit des Museums dabei oft politisch ist, "das geht gar nicht anders", ist die Direktorin überzeugt - "gerade in Zeiten wie diesen". Zwar rücke die Geschichte des Nationalsozialismus naturgemäß immer weiter in die Vergangenheit, sagt Mirjam Zadoff. "Aber zugleich rückt sie auch immer näher an uns heran. Weil bestimmte Termini und Formulierungen aus jener Zeit plötzlich wieder in der politischen Diskussion auftauchen. "
Auch diese Entwicklung wäre bei den Feierlichkeiten zum fünften Geburtstag des NS-Dokumentationszentrums vermutlich diskutiert worden. Nun jedoch müssen diese wegen der Corona-Pandemie ausfallen - oder ins Digitale verlegt werden. Dort ist die Einrichtung schon jetzt sehr aktiv, unter anderem mit der Smartphone-App "Orte erinnern", mit der Nutzer Stadtrundgänge auf den Spuren der NS-Geschichte in München unternehmen können.
DK
Patrik Stäbler
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