Ingolstadt
"Eine Katastrophe für alle Beteiligten"

Zwei getötete Buben bei Autobahnunfall: Verursacher erhält sechsmonatige Haftstrafe zur Bewährung

07.11.2017 | Stand 02.12.2020, 17:15 Uhr
Tragödie auf der Autobahn: Am 24. Mai 2016 bot sich den Einsatzkräften auf der A 9 bei Denkendorf ein furchtbares Bild: Aus dem letztlich total zerstörten Van einer türkischen Familie (Bildmitte) waren beim Aufprall auf eine Betonmauer zwei Kinder herausgeschleudert und getötet worden. −Foto: Reiß

Ingolstadt (DK) Sechs Monate Haft zur Bewährung für zweifache fahrlässige Tötung und vierfache fahrlässige Körperverletzung - mit diesem Urteil des Amtsgerichts könnte im Fall des tragischen Autobahnunfalls bei Denkendorf vom Mai 2016 für den 50-jährigen Verursacher gestern der Schlussstrich gezogen worden sein.

Der Spruch ist aber noch nicht rechtskräftig.

 

 

"Es gibt im deutschen Strafrecht nicht die Maxime ,Auge um Auge, Zahn um Zahn'."

Richterin Gabriele Seidl

 

Tränen bei der Mutter zweier getöteter Buben, ein sichtlich geknickter Angeklagter, der gegenüber der Frau um Worte rang, ernste Mienen bei Richterin, Anklagevertreter, den beteiligten Rechtsanwälten und den Prozessbeobachtern - allen stand das Wissen um eine Tatsache ins Gesicht geschrieben: In dieser Tragödie wird es keine Aufrechnung im Sinne der Hinterblieben geben können, sondern lediglich eine juristische Aufarbeitung, die dem objektiv nachvollziehbaren Geschehen so gerecht wie möglich zu werden versucht. Und hier könnte Einzelrichterin Gabriele Seidl nach zwei Verhandlungstagen (DK berichtete bereits am 25. Oktober) das richtige Maß gefunden haben.

Für die Vorsitzende stand gestern nach Anhörung aller Zeugen und zweier Gutachter sowie der Plädoyers fest, dass der Angeklagte - bislang angestellter Geschäftsführer einer Münchner Firma, aber aufgrund eigener physischer und psychischer Unfallfolgen wohl längst nicht mehr voll erwerbsfähig - an jenem verhängnisvollen Tag deutlich zu schnell auf feuchter Fahrbahn unterwegs gewesen war.

Weil der Unfallverursacher mit seinem großen BMW einem Gutachten zufolge mit rund 180 km/h auf der linken Fahrspur ins Schleudern und in die Leitplanke geraten war und dann den auf der mittleren Spur fahrenden Van einer sechsköpfigen türkischen Familie touchiert und regelrecht "abgeschossen" hatte, war dieses Fahrzeug gegen eine Betonbegrenzung geprallt. Die beiden acht und neun Jahre alten Söhne waren durch enorme Fliehkräfte herausgeschleudert und tödlich verletzt worden.

Ein vom Gericht bestellter Gutachter hatte es für sehr wahrscheinlich gehalten, dass die beiden Jungen im Gegensatz zu den übrigen Familienmitgliedern zum Unfallzeitpunkt nicht angeschnallt gewesen waren. Der Verteidiger präsentierte am gestrigen zweiten Verhandlungstag sogar noch einen eigens von seinem Mandanten beauftragten weiteren Unfallanalytiker, der in seiner Expertise zu genau jenem Schluss kam: Wären die beiden Buben ebenso wie ihre beiden Schwestern und ihre Eltern angeschnallt gewesen, so diese Darstellung, hätten sie den Unfall wahrscheinlich überlebt.

Diese Auffassung machte sich auch Oberstaatsanwalt Nicolas Kaczynski in seinem Schlussvortrag zu eigen. Der Ankläger sprach von einer "Katastrophe für alle Beteiligten". Denn nicht nur das Leben der Opferfamilie sei zerstört worden, sondern auch der Unfallverursacher werde für den Rest seiner Tage unter den schrecklichen Unfallfolgen zu leiden haben. Dass die getöteten Kinder zuvor ungesichert im anderen Auto unterwegs gewesen waren, könne dem Angeklagten zwar nicht angelastet werden, wohl aber seine nicht den Witterungsbedingungen angepasste Geschwindigkeit (Schleudergefahr und Tempo 80 bei Nässe waren im Unfallabschnitt ausgeschildert). Mit seinem "sorglosen, eingeschränkten Blick" habe der Mann in Verkennung der Umstände eine verkehrsrechtliche Pflichtverletzung begangen, die Ausgangspunkt für das gesamte Geschehen gewesen sei. Kaczynski forderte für den Münchner zehn Monate Haft zur Bewährung, eine Geldauflage und eine weitere einjährige Führerscheinsperre.

Der Nebenklagevertreter stellte in seinem Plädoyer vor allem auf das Leid der Hinterbliebenen und eine von ihnen bis zuletzt vergeblich erwartete persönliche Erklärung oder Entschuldigung des Angeklagten ab. Seine Mandanten ("Sie haben aufgehört zu leben, ihre Tragödie ist real") fühlten sich seit jenem einschneidenden Tag "wie in einem Gefängnis" - und genau dies solle auch der Angeklagte "irgendwie spüren". Wegen seiner eindeutigen Schuld, so der Anwalt, müsse der 50-Jährige auf jeden Fall eine Haftstrafe ohne Bewährung erhalten, die Höhe liege aber im Ermessen des Gerichts.

Verteidiger Martin Kämpf plädierte hingegen auf Freispruch. Er ging in seinen Schlussbetrachtungen von einem technischen Versagen am Fahrzeug seines Mandanten aus, der vor Gericht beteuert hatte, direkt vor seiner Schleudertour ein metallisches Krachen hinten links am Fahrzeug wahrgenommen zu haben. Der gerichtlich bestellte Gutachter hatte die Möglichkeit eines Bauteilversagens zwar ausgeschlossen, andererseits aber im Trümmerfeld des Unfallortes auch nicht mehr alle Teile der Radaufhängung des BMW sicherstellen können. Dass die getöteten Kinder im anderen Auto ungesichert mitfuhren, sei für den Angeklagten "nicht vorhersehbar" gewesen, so der Verteidiger.

Richterin Gabriele Seidl sah diesen letzten Punkt in ihrer Urteilsbegründung genau so, stellte aber zunächst den aus ihrer Sicht "ganz klaren Sorgfaltspflichtverstoß" des Angeklagten wegen seiner angesichts der Straßenverhältnisse weit überzogenen Ausgangsgeschwindigkeit heraus. Dass er dadurch die Kontrolle über sein Auto verlor, sei ein "entscheidendes Fehlverhalten" mit "unendlich tragischen Folgen" gewesen. Dieser Ursachenzusammenhang sei unverkennbar und begründe den Schuldspruch hinreichend. Seidl verurteilte den Münchner auch zu einer Geldauflage von 8000 Euro (zu zahlen an eine Kinderhilfsorganisation) und zu einer noch sechsmonatigen Führerscheinsperre.

Den sichtlich aufgewühlten Eltern der getöteten Buben konnte die Vorsitzende natürlich mit ihrem Urteil keinen Trost spenden. Dennoch bat sie die Hinterbliebenen um ein gewisses Verständnis: "Es gibt im deutschen Strafrecht nicht die Maxime ,Auge um Auge, Zahn um Zahn'."