Sulzano
Ein wahres Wunder

Spektakuläres Kunsthappening von Christo: Am norditalienischen Iseosee kann man bald über das Wasser laufen

31.05.2016 | Stand 02.12.2020, 19:44 Uhr

Sulzano (DK) Voll wird es werden. Und einzigartig. Christo bietet in wenigen Wochen Hunderttausenden das Kunsthappening des Jahres. In Scharen werden die Menschen vom 18. Juni bis 3. Juli an das malerische Ufer des norditalienischen Iseosees - in der Nähe von Bresia und Bergamo in der Lombardei - strömen. Sie werden auf den mit dahliengelbem Stoff überzogenen Stegen über den See gehen, mit Blick auf die grünen, steilen Berge und das taubenblaue Wasser - und mit wackeligen Knien und glückseligem Blick aufs Festland oder auf die Insel zurückkehren. Wer kann schon einmal über das Wasser wandeln

Der Meister der Verpackungs- und Verhüllungskunst - auch wenn er selbst diese Kategorisierung nicht mag - macht in diesem Sommer das Wunder möglich, bietet den Stoff, aus dem die Träume sind, fügt den spektakulären Aktionen der vergangenen Jahrzehnte einen weiteren Superlativ hinzu. "Floating Piers", schwimmende Stege, nennt der 80-Jährige sein jüngstes Werk, das erneut aus Natur Kunst macht. Das eher Enthüllung als Verhüllung ist. Ein Installation, die Orte, Formen, den Blick darauf verändert und den Besuchern mit nichts vergleichbare Erfahrungsmomente beschert.

Auf drei Kilometern Länge führt der Weg vom kleinen Ort Sulzano am schmalen Uferstreifen hinüber zur Insel Monte Isola, die wie ein Dromedarhöcker auf dem See aufragt, weiter zum Miniatur-Eiland San Paolo, einmal drumherum und wieder zurück. Dazu kommen 2,5 Kilometer eingepackte Uferwege. 16 Meter breit sind die Stege, die aus mehr als 200 000 weißen Schwimmwürfeln aus Kunststoff zusammengeschraubt werden und abschließend mit 75 000 Quadratmetern Nylongewebe überzogen werden. Der Stoff stammt wie bereits 1995 bei der Reichstagsverhüllung, von einer Firma im Münsterland, das Garn und die Farbe von Firmen aus Wuppertal.

Die Idee Christos ist so simpel wie entwaffnend, in der Umsetzung ein technisches Meisterwerk, ein gigantischer organisatorischer und logistischer Aufwand - Christo liebt diese Herausforderungen und steckt viele mit seiner Leidenschaft an: das Team, Hunderte Helfer, die Taucher, die im teils 90 Meter tiefen See die weißen Schwimmelemente fest verankern. Denn die Stege sollen nicht schaukeln, sondern schnurgerade auf dem Wasser liegen und die Bewegung der Wellen aufnehmen.

15 Millionen Euro soll alles, heißt es, kosten, und wie bei den vorangegangenen Land-Art-Werken von Christo und Jeanne-Claude verzichtet Christo auch hier auf Subventionen und Unterstützung von Sponsoren. Seine Projekte finanziert er ausschließlich aus dem Verkauf seiner Zeichnungen und Entwürfe.

Die Vorbereitungen laufen seit einigen Wochen nicht nur auf dem Wasser des Iseosees, sondern auch an Land auf Hochtouren. Die Region muss das Verkehrskonzept perfektionieren. Denn die Herausforderung wird darin bestehen, dort, wo ansonsten etwa 1800 Menschen leben, Platz für täglich 15 000 und zu Hoch-Zeiten bis zu 40 000 Menschen zu schaffen. Bis zu 250 000 könnten es insgesamt werden. Geklärt werden muss auch noch, wie viele Wassergänger gleichzeitig auf die Stege dürfen.

Nur zwei Jahre hat die Planung gedauert. Gleich von der Idee begeistert war die Familie Beretta. Als ältestes Waffenunternehmen weltweit hat Beretta seinen Firmensitz in unmittelbarer Nähe des Iseosees. Die kleine Insel mit der toskanisch anmutenden Villa und den Zypressen, die auf dem Wasser-Parcours Christos liegt und einmal umrundet werden kann, nutzen die Nachfahren von Pietro Beretta II als Feriendomizil. Die Familie ist kunstsinnig und seit mehr als 500 Jahren der Region verbunden.

Ebendiese wird enorm profitieren, der See aus dem Schatten der Nachbarseen - des Gardasees im Osten und des Comersees im Nordwesten - heraustreten und weltweit mit dem Land-Art-Werk Christos verbunden bleiben. Das Kunst-Spektakel ist unbezahlbare Werbung für eine der unbekannteren Gegenden Italiens, in der es viel zu erleben gibt. Der See bietet rundherum Kultur und Freizeitmöglichkeiten. In den Bergamasker Alpen gibt es Wanderwege, dank der Lage ist der See ein Paradies für Segler, das Wasser ist sauber, die Fische, die in den Restaurants - meist unmittelbar am Wasser gelegen - angeboten werden, schmecken köstlich. Außerdem locken Brescia mit prächtiger Visconti-Burg und malerischer Altstadt und Bergamo, die stolze Stadt auf dem Berg. Und im nahen Weinanbaugebiet Franciacorta werden Wein- und Sektliebhaber glücklich. Dort wird der gleichnamige Schaumwein angebaut, so etwas wie der Champagner Italiens. Ein Wirtschaftsmann spricht in der Zeitung "Il Corriere della Sera" über "Floating Piers" von "una benedizione", einem "Segen". Er hat den finanziellen Nutzen berechnet: "Im Mittelwert werden es drei Millionen Euro am Tag sein." Die positiven Auswirkungen auf den Value Brand, den Wert der Marke, des Sees, der Region, schätzt er gar auf fünf Milliarden Euro.

Auf Monte Isola gibt es eine weitere Besonderheit. Sie gilt insgeheim als Fußballinsel. Vom Mittelalter bis in die Neuzeit wurden hier Fischernetze geknüpft und exportiert. Bis die Chinesen mit billiger Ware den Markt veränderten. Die Traditionsfirma stieg auf Sportnetze aller Art um - auch für Fußballtore bei internationalen Wettbewerben. Mit Erfolg. "La Rete" existiert heute noch.

Einige Frauen der Insel sind nicht weniger pfiffig und fertigen schicke bunte Taschen aus Netzen und Stoff, die nun das Zeug dazu haben, der Renner des Sommers zu werden. Auch wenn die Frauen noch nicht in die Großproduktion eingestiegen sind. "Wir können nicht mehr als arbeiten", meint eine der Seniorinnen noch etwas skeptisch gegenüber den weißen Pontons, die täglich weiter in den See hineinwachsen. Sie weiß noch nicht, ob sie sich auf die Stege trauen wird. "Wenn meine Enkel mitgehen und mich stützen", sagt sie. Dann vielleicht. Vor dem Wasser habe sie Respekt. "Wir sind ja keine Fische oder Heilige, sondern für das Land geschaffen." Und fügt noch hinzu, dass nur Christus über das Wasser gehen könne: "Solo Christo puo camminare sull' aqua."