Ingolstadt
Ein Leuchtturm in der dunkelsten Stunde

Das Kriseninterventionsteam des BRK bleibt bei menschlichen Tragödien, wenn andere wieder gehen

16.12.2016 | Stand 02.12.2020, 18:54 Uhr

Rund 150 Einsätze im Jahr mit etwa 600 Betroffenen zählt der Kriseninterventionsdienst des Roten Kreuzes in Ingolstadt. Die Ehrenamtlichen bieten psychosoziale Betreuung bei plötzlichen Todesfällen, tödlichen Unfällen oder anderen akuten Schicksalsschlägen. Die Ingolstädter Gruppe baute auch den Dienst für den Landkreis Neuburg-Schrobenhausen mit auf. - Fotos: KID Ingolstadt

Ingolstadt (DK) Es soll und darf nicht negativ klingen: Aber man möchte dem Kriseninterventionsteam (KID) im Dienst nicht begegnen müssen. Denn das wäre immer der Beleg dafür, dass etwas Schlimmes passiert ist. Wie sich die Ehrenamtlichen dann um Angehörige und Betroffene kümmern und ihnen in der oft dunkelsten Stunde zur Seite stehen, kann man nicht hoch genug einschätzen.

 

Jeder hat irgendwann so einen Fall. Der ihn einfach nicht loslässt. Nach dem der Einsatz eben nicht "rund" ist, wie die Mitarbeiter gerne sagen, wenn sie alles für sich selbst aufgearbeitet haben. Es war im Advent vor einem Jahr, als der Alarmierungspiepser losging und Holger Zirkelbach mit Kollege Dirk Fecht zu einem plötzlichen Kindstod in Ingolstadt dazustieß. Die beiden Männer vom KID des Roten Kreuzes nahmen sich der Eltern für die psychosoziale Betreuung an. "Die Frau hat über Stunden auf meine Brust eingeschlagen", erinnert sich Zirkelbach noch lebhaft. Dazu rief die völlig aufgelöste Mutter wieder und immer wieder: "Bring mir mein Kind zurück!"

Den Leichnam des Säuglings überführte die Polizei - wie es in solchen tragischen Fällen die Vorschrift ist - zunächst zur Obduktion, danach gaben ihn die staatlichen Behörden zur Beisetzung frei. Und erst als am nächsten Tag das Baby würdig auf einem Ingolstädter Friedhof beigesetzt wurde und Zirkelbach und Fecht an der Seite der Eltern selbst Rosenblätter auf den kleinen Sarg streuten, wirkte das auch für sie wie eine Befreiung. "Dann konnten auch wir Abschied nehmen", berichtet Fecht. Dann war der Einsatz für sie "rund" - dann ging für sie das Reden darüber, die Aufarbeitung des Erlebten, um es selbst zu verarbeiten.

Den Zuhörer schüttelt es, angesichts der Schilderungen und der Tragik, des Leids, der Not, mit denen sich die KID-Mitarbeiter beschäftigen. Doch man muss sich nur vergegenwärtigen, wie es wäre, wenn es den Dienst nicht geben würde. 28 Ehrenamtliche umfasst der KID in Ingolstadt, der 24 Stunden zur Verfügung steht. Ein Dutzend davon ist "vollaktiv", die anderen leisten einige Stunden. "Wenn ich Bereitschaft habe, dann habe ich immer die Uniform im Auto und bewege mich nur sternförmig davon weg", erzählt Beatrix "ChaBé" Müller, die seit vier Jahren mit dabei ist. Der KID wird von der Integrierten Leitstelle, die von Ingolstadt aus das gesamte Feuerwehr- und Rettungswesen in der Region steuert, mit eingesetzt. Immer mindestens im Zweierteam. Die Mitarbeiter stoßen zu Unfällen dazu, sind bei Katastrophenfällen im Einsatz, begleiten aber auch die Polizei, wenn die Beamten die Angehörigen eines Getöteten informieren. Wenn der Polizist, der Rettungsdienst, die Feuerwehr oder andere Einsatzkräfte ihren Job getan haben, rücken sie natürlich ab - der KID dagegen, er bleibt.

"Unser Dienst ist ein Angebot. Es ist aber keine Zwangsbeglückung", sagt Holger Zirkelbach, der aktuell der Kreisfachdienstleiter in Ingolstadt ist. "Wenn man uns nicht will, dann gehen wir auch wieder." Es sei auch "kein Psychozwang", ergänzt Beatrix Müller. "Wir behandeln niemanden, wir betreuen."

In fast allen Fällen seien die Menschen, um die es geht, natürlich heilfroh, dass jemand in dieser Situation bei ihnen ist. "Wir sind aber auch nicht nur zum Händchenhalten da", beschreibt Heidi Sprenger ihre Aufgabe. Das Ziel sei es vielmehr, die Personen, die Familien, denen von einem Moment auf den anderen der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, "vom Chaos langsam wieder in die Ordnung zu bringen", sagt Sprenger. Die Menschen müssten nach dem Schock, dem totalen Stillstand, wortwörtlich wieder handlungsfähig werden. Und wenn es nur ist, dass sie ein Glas Wasser holen.

Während andere Dienste oft einen geregelten Handlungsablauf haben, der Rettungsdienst zum Beispiel eine feste Routine mit Abläufen bei bestimmten Diagnosen hat, gibt es bei der Krisenintervention eben kein "Schema F", nach dem alles abläuft und ablaufen kann. Vom schreienden und tobenden Angehörigen bis hin zum verstummten Menschen sei alles dabei, berichten die Ehrenamtlichen aus ihrem Alltag. Jeder bedarf einer eigenen Strategie, muss in seiner individuellen Lage "abgeholt" werden. Und alles passiere mit der Geisteshaltung: "Wir sind für euch da, egal wie lange sie uns brauchen", fasst Beatrix Müller zusammen.

Der KID ist für alle da. Auch für den, der in einer Tragödie nach landläufiger Meinung Schuld auf sich geladen hat. Wie zum Beispiel der Unfallfahrer, der im vergangenen Jahr eine Lehrerin an der Maximilianstraße überrollte. Er wurde vom KID betreut. "Wir richten, werten oder urteilen nicht", sagt Holger Zirkelbach. "Wir sind die Feuerwehr für die Seele." Egal, wessen Seele.

Dazu bedarf es oft klarer Sprache. "Wir sind manchmal knallhart und nennen die Dinge beim Namen. Floskeln wie ,Papa ist eingeschlafen' oder ,Er ist weggegangen' wird es bei der Überbringung der Todesnachricht nicht geben. "Wer weg ist, kommt auch wieder", sagt Zirkelbach. Er ist tot, er ist verstorben - diese Nachricht muss sich bei den Betroffenen im Kopf festsetzen, dann kann die Aufarbeitung beginnen. "Wir machen das aber auf Augenhöhe mit den Menschen. Wir gehen ein Stück des schweren Weges mit ihnen zusammen", beschreibt Beatrix Müller. Am KID können sich die Leute aufrichten oder mit ihm wieder Orientierung finden. "Wir sind der Leuchtturm in den dunkelsten Stunden", sagt Holger Zirkelbach.

Jeder Mitarbeiter findet dabei seinen eigenen Weg, bei aller Nähe die Distanz zu den hilfsbedürftigen Menschen oder deren Schicksalen zu wahren. Ein reiner Selbstschutz, um das nicht an sich heranzulassen. Man verfolge bewusst nicht, wie sich Schicksale weiterentwickeln. "Denn dann werde ich Teil der Geschichte. Dann werde ich sie im Kopf nicht mehr los", erzählt Zirkelbach. Der KID betreut in der akuten Krise, versucht zum Beispiel, die Familie eines Betroffenen für die weitere Betreuung zu organisieren. Auch andere Anschlusshilfen oder Kontakt wird vermittelt. "Wenn wir sehen, dass man uns nicht mehr braucht, dann gehen wir auch so bald wie möglich", berichtet Dirk Fecht.

Aber niemals, so ist eine der Regeln, schließe man den Fall ab, ohne im Zweierteam gegenseitig darüber zu reden. Und wenn es sein soll, dann stehen auch alle anderen KIDler bei der Supervision Tag und Nacht bereit für den Kameraden oder die Kameradin.

Das ist auch Teil der langen Ausbildung, die es braucht, um im Team dabei zu sein. Die Motivation des Bewerbers ist auch ein Kriterium. "Wir sind keine Selbsthilfegruppe", erklärt Holger Zirkelbach. Menschen, die eigene Schicksale oder Verluste aufarbeiten möchten, seien fürs KID nicht geeignet. "Es ist ein sehr intensives Ehrenamt", sagt Zirkelbach.

Erst nach vielen Ausbildungsstunden, in denen der Interessent selbst oder aber das KID-Team erkennen kann, ob Eignung besteht, sei man bereit. "Ich habe am Anfang auch überhaupt nicht gewusst oder einschätzen können, ob es was für mich ist", erzählt Heidi Sprenger. Nach sechs Jahren sagt sie: "Für mich ist es eine ganz große Bereicherung." Das Gefühl, das Wissen "wir konnten helfen" sei sehr erfüllend. Aber für sie laute die Maxime: "Mitfühlen, aber nicht mitleiden!"

Der KID braucht auch selbst Unterstützung. Er finanziert seine Ausbildung, die Ausrüstung und das Fahrzeug ausschließlich über Spenden. "Das geht alles eins zu eins in die Sache", sagt Zirkelbach. Er hat für die Dienste einen VW-Bus angeschafft, der auch als Aufenthaltsraum an Unfallstellen dient, aber schon 270 000 Kilometer auf dem Tacho hat. Neben Spenden werden immer Mitarbeiter benötigt oder gesucht. Man sollte unter der Woche Zeit haben. Aber das ist, wie sich zeigt, wohl nur die geringste Voraussetzung für dieses fordernde und unverzichtbare Ehrenamt.