Ingolstadt
Ein hinterlistiger Angriff

Suchtkranker wird nach brutalem Schlag mit Wasserflasche zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt

12.04.2017 | Stand 02.12.2020, 18:18 Uhr

Ingolstadt/Reichertshofen (DK) Für den Raubüberfall auf seine Therapeutin in einer Hilfseinrichtung und einen Angriff auf einen Justizvollzugsbeamten ist ein 45-Jähriger am Landgericht zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Der Suchtkranke kann aber bald in eine Entziehungsanstalt wechseln.

Der Vorsitzende Richter Thomas Denz hatte viele Fragen. Eine an den Angeklagten lautete: "Wann werden Sie denn mal gescheit" Angesichts einer 20-jährigen Drogenkarriere mit "Raubbau an Körper und Psyche" (Denz) und einem dennoch geistig fitten und reumütigen Beschuldigten, der ihm gegenübersaß, war das absolut berechtigt. In Denz' Worten schwang die große Frage mit, die das Verfahren der 5. Strafkammer prägte: Was soll man mit dem 45-Jährigen anfangen? Wegsperren oder ihm auch helfen?

Aus strafrechtlicher Sicht war der Fall klar. Ende Oktober hatte der Patient einer Hilfseinrichtung im Gemeindebereich von Reichertshofen seine Therapeutin zum abgeschlossenen Medikamentenzimmer gelockt. Angeblich wollte er eine Schlaftablette. Dann zog er der arglosen Frau eine Glasflasche über den Schädel und bedrohte sie, bis sie General-, Safe- und Autoschlüssel rausrückte. Mit Medikamenten und 1200 Euro aus zwei Geldkassetten machte er sich im Auto davon. Für die mit einer Platzwunde stark blutende Neuburgerin rief er zwar einen Sanka, sperrte sie aber ein. Noch am Abend wurde der Mann an der A 9 verhaftet.

In Untersuchungshaft in Kaisheim versuchte er wenige Tage später, sich das Leben zu nehmen. Er ritzte sich die Pulsadern auf und schluckte Rasierklingen. Nach einer Operation infolgedessen im Augsburger Zentralklinikum zog er dem Justizbeamten, der ihn auf dem Zimmer bewachte, den eigenen Schlagstock über den Kopf.

Was sich aber nach den Handlungen eines schwerkriminellen Gewaltverbrechers anhört, wird dem Angeklagten nicht gerecht. Vor Denz saß ein Suchtkranker, der sich im Oktober offenbar in aussichtsloser Lage gesehen hatte. Aus der Therapieeinrichtung sollte er rausfliegen, weil er mit Drogen erwischt worden war, aus der Entgiftung im Ingolstädter Klinikum war er gerade rausgeflogen, weil er gesoffen hatte, seine langjährige Beziehung stand offenbar auch auf der Kippe. "Wenn jemand über Jahre suchtkrank ist, treten auch depressive Phasen auf, in den er nicht mehr weiß, wie es weitergeht", fasste der vom Gericht bestellte psychiatrische Gutachter zusammen. "Die Taten ergeben für Normalsterbliche überhaupt keinen Sinn", sagte Richter Denz. Wie weit wäre der Angeklagte mit Auto und 1200 Euro wirklich gekommen? Wie wäre es weitergegangen? Warum schlägt er kurz nach dieser Tat und Suizidversuchen ans Bett gefesselt einen Justizvollzugsbeamten? Zumindest hierzu lieferte der Angeklagte eine Erklärung: Der JVA-Beamte habe ihn provoziert gehabt. Er sei dann mit einer "Angst-Panik-Attacke" nach einem Albtraum erwacht und habe leicht den Schlagstock greifen können.

Die Steuerungsfähigkeit sei angesichts der emotionalen Ausnahmesituation hier tatsächlich aufgehoben gewesen sein, sagte der psychiatrische Gutachter. Hinweise, dass der 45-Jährige aber berauscht war, gab es bei keiner Tat. Auch für eine Psychose gebe es keinerlei Anhaltspunkte. Der Angeklagte war also Herr seiner Sinne.

Nur stellte sich in der Aufarbeitung ein Problem ein, das Denz klar benannte. Alkoholmissbrauch, Medikamente und Drogen aller Art ziehen sich seit der Bundeswehrzeit durch das Leben des Angeklagten, der 13 Vorstrafen mitbringt. Fast alles Beschaffungskriminalität: Einbrüche in Apotheken, gefälschte Rezepte, Trunkenheit, Vollräusche - einmal mit unfassbaren fünf Promille. Als er einst aus einem Methadon-Substitutionsprogramm ausgestiegen sei, habe er zwei bis drei Flaschen Wodka täglich getrunken. Und dennoch mit seinem "Alkoholspiegel" als Koch gearbeitet. Stationäre Entziehungskuren hat er teils kurz vor dem Ziel abgebrochen. "Wenn es aber hart auf hart kommt, dann weicht er aus, flüchtet sich in nebulöse Ausreden", sagte Denz. Kann man ihm deshalb noch die Chance auf eine stationäre Entziehungskur gewähren? "Man kann es vertreten, aber es ist ein Grenzfall", beantwortete der Richter die Frage selbst.

Wie die Staatsanwältin und sogar der Verteidiger beantragt hatten, verhängte die 5. Strafkammer eine siebeneinhalbjährige Haftstrafe - wobei die Mindeststrafe für eine besonders schwere räuberische Erpressung schon bei fünf Jahren liegt. Im Gegensatz zur Anklägerin, die keine hinreichende Erfolgsaussicht erkannte, dass der 45-Jährige danach keine erheblichen Straftaten mehr begehen wird, gewährte Denz mit der Kammer aber eine zweijährige stationäre Entziehungskur. Zunächst muss der suchtkranke Angeklagte ein Jahr und neun Monate Haft absitzen, dann kann er wechseln: "Hoffen wir", sagte Denz, "dass Sie die Kurve kratzen und auf die Gerade kommen - und dann nur noch geradeaus schauen. Da sind keine Drogen und ist kein Wodka." Das Urteil ist rechtskräftig.