Ein Blick hinter die Fassade

16.12.2010 | Stand 03.12.2020, 3:20 Uhr

Jürgen Heiß macht außergewöhnliche Stadtführungen in Nürnberg. - Foto: Mönius

Nürnberg (DK) Es hat geschneit wie schon lange nicht mehr, und es ist richtig kalt. Menschen drängen sich durch die Nürnberger Altstadt. Viele haben drei, vier Einkaufstüten in der Hand, andere sind auf dem Weg zum Christkindlesmarkt. Hektik, Trubel, aber auch Weihnachtsstimmung ist spürbar. Und mittendrin steht mit Kaffeebecher und Zigarette in der Hand Jürgen Heiß und schaut zu. Er ist Stadtführer, ein besonderer Stadtführer.

"Mittendrin und nach Westen" heißt seine Tour – und sie führt an außergewöhnliche Orte. Orte, die in keinem Reiseführer zu finden sind. Bei dem rund zweistündigen Spaziergang des Projektes "Schicht-Wechsel" werden Plätze und Häuser besucht, die eine besondere Geschichte haben oder in denen Obdachlose und sozial Benachteiligte ein Dach über dem Kopf finden.
 

Seit Juni 2008 gibt es diese etwas anderen, rund zweistündigen Stadtführungen. "Bislang haben weit über 4000 Menschen teilgenommen", sagt Inge Weiß, verantwortliche Redakteurin beim Sozialmagazin "Straßenkreuzer", dem Initiator. Darunter viele Studenten. Regelmäßig kommen auch Polizeischüler aus Eichstätt. Zwei der Stadtführer konnten inzwischen fest angestellt werden. Jürgen Heiß ist der eine. Seit Februar hat der 62-Jährige den Job, im März konnte er nach fünf Jahren Obdachlosigkeit eine eigene Wohnung beziehen.

"Ich bin der Jürgen", stellt sich Heiß zu Beginn der Tour vor. "Für mich ist das Du ein Zeichen des Respekts. Und den Respekt den ich euch gebe, möchte ich zurückbekommen." Sein Weg in die Obdachlosigkeit war keineswegs vorgezeichnet. Er hat eine Ausbildung zum Verwaltungsfachwirt, war zwölf Jahre bei der Bundeswehr. Er hat geheiratet und wurde Vater. Die Ehe ging nach zwei Jahren kaputt. Ein abgebrochenes Sozialpädagogik-Studium später hat er als Lagerist und Lagerleiter gearbeitet. "Ich habe gutes Geld verdient", erzählt er. Mit 39 Jahren dann erlitt er einen Schlaganfall. "In der Zeit im Krankenhaus, als mich nur einer besuchen kam, und bei der Reha habe ich gemerkt, ich bin unwichtig." Jürgen verdiente sein Geld schließlich als Kellner in Festzelten – vom Bodensee bis nach Aschaffenburg. Dann arbeitete er wieder als Lagerist. Weil er immer wieder krank wurde, kam 2005 die Kündigung. "Wie die mich schließlich beim Arbeitsamt behandelt haben, hat mich so geärgert, dass ich beschlossen habe, ich brauche nichts vom Staat, ich will auch nichts vom Staat. Und da habe ich Platte gemacht." Sein Leben fand fortan auf der Straße statt.

Durch Zufall lernte der Schalke-04-Fan einen Verkäufer vom "Straßenkreuzer" kennen und half aus. "Und da merkte ich, die Leute kommen zu mir, die wollen was von mir." Seit dieser Zeit ist er selbst als Verkäufer des Sozialmagazins unterwegs, dessen Auflage bei 17 000 liegt, das monatlich erscheint und von etwa 50 Verkäufern auf der Straße angeboten wird. Das Heft kostet 1,70 Euro, 90 Cent davon gehen an den Verkäufer.

Fünf Jahre lang lebte Jürgen als Obdachloser in Nürnberg, schlief im Burggraben, duschte sich in der Wärmestube. Durch seine Stadtführungen hat er wieder eine eigene Wohnung. Auf diese müssen die Gäste des ersten Anlaufpunktes der Tour auch an bitterkalten Tagen verzichten. Das "Sleep-In" ist Ansprechpartner und Notschlafstelle für jugendliche Obdachlose. "Wir haben hier neun Übernachtungsplätze und zwei Notschlafbetten", erzählt Sozialpädagoge Markus Kawaletz.

Im "Sleep-In" geht es im Wesentlichen um die Sicherung der Grundbedürfnisse: Essen, Schlafen, Duschen und auch mal die Wäsche waschen. Zudem werden die 14- bis 21-jährigen Jugendlichen beraten. Etwa wie man ein Zimmer in einer Obdachlosenpension und damit eine Meldeadresse bekommt – denn nur so erhält man Hartz IV.

Im Schnitt liegt die Auslastung bei vier bis sechs Personen pro Nacht, im Sommer wie im Winter, "mehr Jungen als Mädchen", so Kawaletz. "In der Regel können die Obdachlosen sechs Nächte pro Monat hier bleiben. Die meisten wollen gar nicht länger." Viele der jungen Erwachsenen haben sich bewusst für dieses Leben entschieden, haben lange Jugendhilfekarrieren hinter sich, waren im Heim oder in einer Pflegefamilie, bevor sie auf der Straße gelandet sind. "Die meisten scheitern im Alltag, können keine Termine einhalten oder erscheinen betrunken", sagt er. "Bei uns können sie zur Ruhe kommen, hier sind weder Alkohol noch Drogen und auch keine Gewalt erlaubt."

Die Zimmer sind spartanisch eingerichtet. Sofa, Sessel und ein Tisch im Wohnzimmer, abschließbare Schränke im Flur, Betten in den Schlafräumen. Und vergitterte Fenster. "Das mussten wir machen, weil die Jugendlichen immer wieder mal Sachen aus den Fenstern geworfen haben. Klamotten zum Beispiel, aber auch mal einen Becher Buttermilch. Das hat regelmäßig Ärger gegeben", erzählt Kawaletz.

Im vergangenen Winter sind in Deutschland 17 wohnungslose Männer erfroren, teilte die Bundesgemeinschaft Wohnungslosenhilfe kürzlich mit. Sie fordert mehr Hilfen für Menschen, die auf der Straße leben, vor allem in kleinen und mittleren Städten. Bundesweit gibt es etwa 250 000 Obdachlose. Rund 20 000 leben ganz auf der Straße. Wie ist die Situation in Nürnberg? "Die Dunkelziffer liegt bei 1200 bis 1800", sagt Jürgen. "Aber hier gibt es ausreichend Hilfsangebote. Keiner muss auf der Straße schlafen, wenn er nicht will."

Der nächste Stopp der Tour ist im Café des CVJM, des Christlichen Vereins Junger Menschen. Dorthin kann jeder kommen, und dort wird unter anderem Bildungsarbeit geleistet. "In Seminaren zum Beispiel lernen Jugendliche erst einmal die sogenannten Soft Skills als berufsvorbereitende Maßnahmen", erzählt Michael Götz, leitender CVJM-Sekretär. Zu den Soft Skills, den sozialen Kompetenzen, gehören zum Beispiel Teamfähigkeit und Konfliktfähigkeit.

Ein paar Häuser weiter ist die Boutique Lilith, ein Secondhand-Laden für Damenmode, der Arbeitsplätze für ehemals drogenabhängige Frauen anbietet. "Viele die Probleme mit Drogen hatten, wollen beruflich wieder Fuß fassen. Für sie hat die Arbeit etwas Stabilisierendes", sagt Lilith-Geschäftsführerin Daniela Dahm. "Und die Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt sind verheerend. Viele Frauen waren zehn Jahre aus dem Job oder haben keine Ausbildung." Ihnen wird hier eine Perspektive geboten.

Lilith ist ein gemeinnütziger Verein und Träger verschiedener Einrichtungen. Betreutes Wohnen und ein Frauencafé gehören ebenso dazu wie Beratung und ein Mutter-Kind-Angebot. Und eben Arbeitsprojekte wie die Boutique. "Vier Frauen lernen hier viel über Verkaufskonzepte, Dekoration, Textilkunde und Aufbereitung der Kleidung. Und sie entwickeln Selbstvertrauen", erzählt Dahm. "Aber der Wiedereinstieg ist sehr schwer."

Das Restaurant "Estragon" ist die letzte Station dieser Stadtführung. Auch das "Estragon" ist mehr als ein gewöhnliches Restaurant. Es wird von der Aids-Hilfe Nürnberg-Fürth-Erlangen betrieben und soll Schwerbehinderten, Langzeitarbeitslosen und HIV-Positiven einen Einstieg in einen Job verschaffen. Es ist ein ansprechendes Lokal mit interessanter Speisekarte – Schwerpunkt mediterrane Küche. "Und es läuft gut, die Bevölkerung nimmt das Restaurant an", sagt Praktikant Sebastian Loreth. "Wir sind den ganzen Dezember ausgebucht." Das Projekt gibt es seit sechs Jahren, derzeit werden sechs Ausbildungsplätze angeboten. Das "Estragon" ist eine Säule der Aids-Hilfe. Eine andere ist das betreute Einzelwohnen mit 24 Plätzen. Die dritte Säule ist das Beratungszentrum, das jedem offen steht.

Die Stadtführung gewährt Blicke hinter die Fassaden einer heilen Welt. Einer unbekannten Welt. Sie schafft Kontaktmöglichkeiten und hilft, Vorurteile abzubauen. Sie lässt die Teilnehmer die Stadt mit anderen Augen sehen.

"Das was ich an Sozialarbeit durch mein Studium machen wollte, mache ich eben jetzt", sagt Jürgen. "Für mich war es immer o. k., auf der Straße und von Tag zu Tag zu leben. Ich bin ein humorvoller Mensch. Was allerdings wichtig war, war mein klar strukturierter Tagesablauf." In Obdachlosenunterkünften hat er nie übernachtet, das hohe Aggressionspotenzial und die mangelnde Hygiene haben ihn abgeschreckt. Ernsthaft krank war er während seiner fünf Jahre auf der Straße auch nicht. "Mit gutem Equipment passiert einem auch im tiefsten Winter nichts."

Straßenkreuzer-Mitarbeiter bieten drei verschiedene Stadtführungen durch Nürnberg an. Erwachsene zahlen sechs Euro, ermäßigt sind es 2,50 Euro. Informationen gibt es im Internet unter www.strassenkreuzer.info