Das
Ein bisschen Freiheit

Im Aichacher Frauengefängnis trifft sich zweimal in der Woche ein Chor – ein Besuch bei der Probe

18.04.2014 | Stand 02.12.2020, 22:48 Uhr

Das Klavier war ein Geschenk. „Und Sie werden auch gleich hören, warum“, sagt Carsten Hazoth und nimmt grinsend auf dem Hocker vor dem Instrument Platz. Vor ihm haben sich neun Sängerinnen aufgereiht. In der Hand hält jede eine Mappe mit Liedern. Die Stühle hinter den Gefangenen sind ähnlich bunt zusammengewürfelt wie der Chor. Die Frauen tragen Anstaltsjeans oder Trainingshosen, dazu weite Oberteile. Hazoth, musikalischer Leiter dieses außergewöhnlichen Ensambles, greift in die Tasten. Als die ersten Akkorde den Raum beschallen, versteht man, was er zu Beginn meinte: Der Klang ist mehr als schräg. Die besten Jahre des Klaviers liegen offenbar schon Jahrzehnte zurück.

Nicht nur das Klavier in diesem Proberaum in der JVA Aichach scheint aus einer anderen Zeit. Der Saal versprüht den Charme eine Turnhalle aus den 70er Jahren, der Boden ist mit quadratischen Linoleum-Fliesen ausgelegt. Die vergilbten Wände mit den vielen Schrammen, waren vermutlich einst weiß. Was den Sängerinnen als Proberaum dient, ist eigentlich ein Schulzimmer. Für andere muss es aber auch als Gymnastikraum herhalten – davon zeugen zwei an die Wand montierte Sprossenwände. Der Blick durch die vergitterten Fenster trifft auf Mauern, Stacheldraht und wieder Gitter.

„Das ist kein Luxushotel hier“, sagt Hazoth. Der 52-Jährige ist für die musikalische Leitung des Frauenchors hinter Gittern zuständig. Vor ihm machte seinen Job eine musikalisch begabte Gefangene. Doch die wurde irgendwann entlassen. Eigentlich sollte er das Ganze nur übergangsweise machen. Inzwischen sind acht Jahre daraus geworden.

Unüberhörbar leistet er gute Arbeit. Der Gesang ist kraftvoll und harmonisch. Das verstimmte Klavier tritt in den Hintergrund, wenn die Frauen loslegen. Die beachtliche Lautstärke bildet einen skurrilen Kontrast zu den schweigenden Mauern rundherum.

Hazoth trifft bei seinen Damen den richtigen Ton. „Die Stelle könnt ihr ruhig aggressiver singen“, weist er sie während einer Unterbrechung an. „Das Potenzial ist ja da.“ Die Frauen lachen. Knasthumor.

Die Chorfrauen sind nicht immer einfach. „Die Damen können auch ganz schön zickig sein“, sagt Hazoth. Vor ein paar Wochen gerieten sich einige Frauen dermaßen in die Haare, dass er seine Aktentasche nahm, und nach Hause ging. Der restliche Unterricht fiel aus. Eine Lektion, die saß. Beim nächsten Mal lief es wieder.

Diesmal geht alles glatt. Höhepunkt ist das Solo einer Gefangenen. „Renova Me“ – „Erneuere mich“, heißt das Lied. Während die Frau singt, kneift sie die Augen fest zusammen und zeichnet die Melodie mit den Händen in die Luft. Sie trägt ein weites, kariertes Kurzarmhemd. Die blaue Jeans hat sie bis unter die Knie hochgekrempelt. In den gelben Filzpantoffeln wippt sie zur Melodie vor und zurück. Die Sängerin scheint das Lied wirklich zu fühlen. Jeder Ton sitzt, so manches „RTL-Supertalent“ würde daneben alt aussehen.

Als sie fertig ist, brandet wilder Applaus ihrer Mitgefangenen auf. „Das war Bombe“, ruft eine. Und auch Pfarrerin Anna Becker ist begeistert: „Als Sie ,Jesus’ gesungen haben, konnte man sehen, wo er steht.“ Mehr Lob geht wohl nicht.

Becker ist seit gut einem halben Jahr evangelische Anstaltspfarrerin in Aichach. Die Gefangenen üben für ihren sonntäglichen Gottesdienst in der Gefängniskirche, der in der Regel alle zwei Wochen stattfindet. Ostern und Weihnachten entsprechend öfter. „Die Freiheit, die es nur bei Gott gibt, kann man mit Singen sehr gut ausdrücken“, sagt die 44-Jährige. „Mindestens so gut, wie ich es mit einer Predigt kann.“

Im Kirchenchor singen, sei mehr als Singen. „Manchmal ist es auch Dampf ablassen“, sagt Becker. Schließlich seien die Frauen oft geladen, wenn sie zur Probe kämen. „Zum Beispiel, wenn der angekündigte Besuch nicht kommt. Oder wenn die vorzeitige Entlassung abgelehnt wurde.“ Im Gefängnis gebe es wenig eigene Entscheidungsmöglichkeiten. Es wird bestimmt wann man isst, schläft, duscht. Deswegen komme es auch zu seltsamen Trotzreaktionen, wie man sie sonst eher von Kindern kennt, sagt Becker.

Beckers Büro in der JVA liegt Luftlinie etwa 70 Meter vom Proberaum entfernt. Bis die Pfarrerin dort ankommt, dauert es aber. Zu ihrem Handwerkszeug gehört ein dicker Schlüsselbund. Und so sperrt sie auf dem Weg zur Chorprobe fünf schwere Stahltüren auf und anschließend wieder zu. Becker stört das nicht. „Es ist mein Traumjob“, sagt sie. „Ich mache hier wirklich Seelsorge. Hier dreht es sich um elementare Lebensfragen.“

Chorprobe ist zweimal die Woche, immer montags und mittwochs. Beginn ist um 17 Uhr. Früher wäre schlecht, denn zuvor ist Hofgang. Frische Luft ist im Gefängnis selten, die Gelegenheit wollen viele nutzen. Und Becker will auch kein „Konkurrenzangebot“ machen.

„Der Chor ist nicht nur ein Freizeitangebot“, betont die Pfarrerin. „Es ist auch ein spirituelles Angebot.“ Oft spricht sie mit den Sängerinnen über die religiösen Liedtexte oder erklärt ihnen bestimmte Kirchenfeste. „Gefangene hören Liedtexte oft anders“, sagt Becker. „Die Erde klagt uns an bei Tag und Nacht“, heißt es etwa im Lied „Holz auf Jesu Schulter“. Auch sie selbst entdecke im Dialog mit den Gefangenen ganz neue Aspekte an altbekannten Bibeltexten.

Viele der Frauen brächten von draußen schon eine gewisse Religiosität mit. Oft gehe es in Diskussionen heiß her. „Einige kennen sich mit der Bibel gut aus“, sagt Becker. Natürlich gebe es auch Gefangene, die sich für Religionsfragen etwas weniger interessierten, gibt die Pfarrerin zu. „Aber ich nehme das nicht persönlich.“ Becker legt Wert auf die Beschäftigung mit dem Glauben– schließlich handele es sich ja um einen Kirchenchor.

Hazoth war früher Berufsmusiker. Er spielte Bass in verschiedenen Orchestern und Bands, reiste durch die Welt. Von Bühne zu Bühne. Von Stadt zu Stadt. Doch dann starb seine Frau. Vor zehn Jahren war das. Dieses Ereignis veränderte sein Leben. Er schloss mit der Musikerkarriere ab, gründete eine eigene Musikschule und schulte nebenbei zum Heilerziehungspfleger um. Zusätzlich zu seinem Posten als musikalischer Leiter des Strafgefangenenchors betreut er Sterbende im Hospiz.

An seinen ersten Arbeitstag im Gefängnis kann sich Hazoth noch gut erinnern: „Ich dachte mir: ,Eigentlich bin ich hier völlig falsch.’“ Er hatte die Noten verteilt und legte am Klavier los. Nur: Keine der Frauen begann zu singen. Bis er merkte: Die können keine Noten lesen. „Ich habe erkannt, dass ich meine Erwartungen ganz weit runterschrauben muss.“ Er muss jeden Satz vorsingen.

Für die Teilnehmerinnen unterbricht der Chor das Leben hinter Gittern, er ist ein wichtiger Freiraum. „Singen ist für mich wie eine Therapie“, sagt eine der Frauen. Als „Balsam für die Seele“, beschreibt es eine andere. Eine Insassin erzählt, dass sie in den Jahren, in denen sie hier ist, nur zweimal gefehlt habe. Eine Frau, die bald entlassen wird, wird beinahe melancholisch: „Der Chor wird mir fehlen“, sagt sie. Sie ärgert sich, dass sie nicht einfach zum Singen in der JVA vorbeikommen kann.

Als er seinen Job als musikalischer Leiter antrat, da habe er manchmal schon ans Aufgeben gedacht, verrät Hazoth. „Aber dann wäre die Pfarrerin ohne Chor dagestanden“, sagt der 52-Jährige. „Das wollte ich nicht – also habe ich mich durchgekämpft.“ Einige seiner Freunde konnten nicht verstehen, wieso er diese Arbeit macht: „Was machst du mit dem Abschaum“, fragten sie ihn. Hazoth ärgern solche Aussagen. Menschenverachtend sei so etwas. „Für mich sind das Menschen wie du und ich. Jeder von uns kann unter bestimmten Umständen auch hier buchen.“

Hazoth weiß um den Wert seiner Arbeit. Manchmal, sagt er, da komme von den Gefangenen auch etwas zurück. Es sind kleine Gesten. Sätze wie „Danke, dass du da warst“. Hazoth genießt das. „Das tut gut.“