Neuburg
Ein Biederbürger läuft Amok

Furioser Auftakt der 2. Neuburger Figurentheatertage: Die Bühne Cipolla zeigt "Michael Kohlhaas"

23.11.2018 | Stand 23.09.2023, 5:04 Uhr
Nur Ehefrau Lisbeth hat noch Einfluss auf Kohlhaas - nach ihrem Tod gibt es für ihn kein Halten mehr. Er wird zum Anführer einer Räuberbande. Die Bühne Cipolla eröffnete das Festival in Neuburg. −Foto: Hammer

Neuburg (DK) Gerechtigkeit bis zur Selbstzerstörung? Wie ein rechtschaffener Bürger vom Gerechtigkeitswahn getrieben zum Brandstifter wird, sein bürgerliches Leben wegwirft und am Ende Gerechtigkeit bekommt - Schadensersatz und den Tod - erzählt Heinrich von Kleists Novelle "Michael Kohlhaas".

Ein komplexer Stoff, eine komplizierte Geschichte, während der Rosshändler Kohlhaas nicht nur dem Raubritter Wenzel von Tronka begegnet, sondern auch Martin Luther und dem sächsischen Kurfürsten. Umso erstaunlicher, wie es der Bühne Cipolla, gelingt in 75 Minuten Figurentheater alles Wesentliche unterzubringen. Packend inszeniert, atmosphärisch dicht, mit durchgängig hohem Spannungsbogen, originellen Puppen und stimmungs- verstärkender Livemusik hält das Stück die Zuschauer im leider nur mäßig besuchten Stadttheater im Bann zwischen Tragik, Komik und erschreckend aktueller Gesellschaftskritik.

Sebastian Kautz, Regisseur, Bühnenbauer und Figurenspieler in Personalunion, agiert hochkonzentriert, spricht und bewegt mehrere Figuren gleichzeitig, ohne jemals in Hektik auszubrechen, tritt vielmehr zugunsten der Puppen zurück, wird zwar nicht unsichtbar, aber kaum noch wahrgenommen. Höchst präsent dagegen Michael Kohlhaas, die größte der ausgeklügelt unterschiedlich gestalteten Figuren. Kohlhaas ist mannsgroß, allerdings nur im Oberkörper vorhanden, den Unterbau liefert Kautz. Größenmäßig ebenbürtig ist ihm nur Lisbeth, Kohlhaas' Gemahlin, aus der Vernunft und staatsbürgerliches Gewissen sprechen. Tatsächlich gelingt es ihr, Kohlhaas zu überreden, seinen Rachefeldzug zu verschieben und sie mit seiner Bittschrift zum Kurfürsten reisen zu lassen. Im Zwiegespräch der beiden wird deutlich, wie sehr sich Kohlhaas in seine Rachsucht verstrickt hat, nachdem ihm Schadensersatz für die vom Junker widerrechtlich angeeigneten und dann geschundenen Pferde verweigert worden war. "Ich will nicht in einem Land leben, in dem man meine Rechte nicht schützt", erklärt er seiner Frau. Und: "Es ist mir nicht um die Pferde, ich will mir selbst Genugtuung verschaffen." Lisbeth geht, wird von der Lanze einer übereifrigen kurfürstlichen Wache getötet. Und wieder erklingt das Totenglöckchen, wie zuvor für den misshandelten Herse, Kohlhaas' Knecht, den er bei den Pferden gelassen hatte. Herse passt in Kautz' Hand, besteht nur aus kreisrundem Kissen als Kopf mit angenähten Gliedmaßen und wird wie ein Ball ins Parkett geworfen, um dort auszuruhen und sich von der Fängerin streicheln zu lassen. Immer wieder bindet Kautz das Publikum ein, fragt es nach seiner Meinung oder lässt es aufstehen, bevor der Richter erscheint. Der ist wie das Tribunal aus insgesamt sechs Vertretern als circa 30 Zentimeter große Ganzkörperpuppe konzipiert und wird auf einem Unterbau stehend bespielt. Wie weit kann sich der Rechtstaat auf einen Deal mit einem Verbrecher einlassen, diskutieren die sechs.

Luther verschafft sich lauthals sächselnd Gehör, sitzt penetrant auf Kohlhaas Schulter, der Kurfürst schwebt dagegen wie ein fernes Gespenst über die Bühne. Das anfangs von Folien bedeckte Bühnenbild verbirgt Puppen sowie Requisiten (Melanie Kuhl) und wandelt sich permanent, wird einbezogen und umgebaut.

Was anfangs so wahllos erscheint, folgt einem ausgeklügelten Plan, jeder Handgriff, jeder Fußtritt, der die Folie beiseiteschiebt, gehört dazu. Genial, wie Kautz den Puppen Leben einhaucht, ihnen individuelle Stimmen wie Charaktere verleiht und Kohlhaas bis auf den animalischen Rumpf langsam entkleidet. Wesentlichen Anteil an der unter die Haut gehenden Inszenierung hat Musiker Gero John (Violoncello, Keyboards, Stimme), dessen Musik das Drama ankündigt und begleitet. Ein fantastischer Auftakt der zweiten Neuburger Figurentheatertage, der mit begeisterten Bravorufen, Stampfen und so langanhaltendem Applaus belohnt wird, dass Kautz den Gartenzwerg (alias Kohlhaas' Nachbar) noch einmal sprechen lässt - als Zugabe sozusagen.

An diesem Samstag zeigt das Figurentheater Salz & Pfeffer um 15 Uhr im Neuburger Stadttheater mit "Carabas" ein Märchenkonzert nach dem "Gestiefelten Kater". Um 20 Uhr präsentiert das Ensemble "Der eingebildete Kranke" nach Moliere.

Andrea Hammerl