DK-Interview des Monats: Silvia Neid über Erfolg, Druck und ein Playboy-Angebot

23.10.2020 | Stand 23.09.2023, 14:48 Uhr
Hatten allen Grund zur Freude: Bundestrainern Silvia Neid (links) und ihre Nationalspielerinnen nach dem WM-Eröffnungsspiel. - Foto: dpa −Foto: A3416 Carmen Jaspersen (dpa)

Ob als Torschützin beim ersten Frauen-Länderspiel 1982, beim EM-Premierentitel 1989, Olympia-Gold 2016 oder der WM-Bewerbung für 2027: Silvia Neid war und ist immer dabei. Die 56-Jährige hat den deutschen Frauenfußball als Spielerin, Co- und Cheftrainerin geprägt wie niemand sonst. Ein Gespräch über Willen, wilde Zeiten, den Wannsee und Weiblichkeit.

Frau Neid, wie schlimm waren Ihre Entzugserscheinungen im Sommer 2017?

Silvia Neid: (lacht) Ich hatte keine Entzugserscheinungen.

Kaum zu glauben: 2017 waren Sie zum ersten Mal nicht als Spielerin, Co-Trainerin oder Chefcoach bei einem großen Turnier dabei. Immerhin seit 1984 werden Frauen-Europameisterschaften ausgetragen, seit 1991 Weltmeisterschaften.

Neid: Ich war in meiner neuen Funktion  live bei der EM. Für den DFB  bin ich ja in der Abteilung Spielanalyse, Diagnostik und Scouting für Trendscouting zuständig. Meine Aufgabe war, die EM in einer kleinen Gruppe zu analysieren und Trends zu erkennen. Deswegen war mir nicht langweilig, ich hatte Spaß auf der Tribüne.

Silvia Neid - als Elfjährige im Frauenteam

Schon als Elfjährige spielten Sie in einer Frauenmannschaft – weil es in Ihrer Heimat keine für Mädchen  gab. 

Neid: Damals gab es noch keine Mädchenteams. Ich war froh, dass es überhaupt eine Frauenmannschaft in der Umgebung gab. 

Neids Eltern waren entsetzt

Sie sollen sich bereits in diesem Alter einen gebrochenen Zeh geschient haben, um mitspielen zu können. Am Willen hat es Ihnen offenbar noch nie gemangelt.

Neid: (lacht) Das stimmt. Ich bin mit meinem Bruder immer auf den Bolzplatz gegangen. Dort hatte ich  mit einem wirklich großen Jungen einen Pressschlag, bei dem ein Zeh schwer gelitten hat. Der war ratzfatz blau und grün. Allerdings stand ein Turnier in meinem Heimatstädtchen Walldürn an, da wollte ich unbedingt mitspielen. Weil mein Vater selbst aktiv gespielt hat, lagen immer Bandagen im Schrank rum. Eine hab ich mir geschnappt und um meinen Fuß gewickelt, dass ich überhaupt in den Schuh reinkam. Erst nach dem Turnier habe ich den wieder ausgezogen. Meine Eltern waren entsetzt (lacht). Das werde ich nie vergessen.

Dabei durften Sie überhaupt nur ein paar Minuten mitkicken.

Neid: Damals dauerte ein Frauenspiel zweimal 30 Minuten. Ich hatte eine Sonderregelung und durfte zweimal 20 Minuten ran. Mein Trainer musste also, wenn er mich spielen lassen wollte, jemanden nach zehn Minuten aus- und mich einwechseln. Für die letzten zehn Minuten ging ich dann wieder raus. So war das Wechselkontingent schon durch mich ausgeschöpft (lacht).

Erst Autos beladen, dann Training

1985 kamen Sie zum TSV Siegen, mit dem Sie eine Dekade lang den deutschen Frauenfußball prägten. Anfangs arbeiteten Sie nebenbei im Blumenhandel Ihres Trainers Gerd Neuser, der zudem Sportdirektor,  Schatzmeister und Arbeitsvermittler war. Wie haben Sie diese wilde Zeit erlebt?

Neid: Wild war die Zeit vor allem bei meinen beiden vorherigen Stationen, SC Klinge Seckach und SSG Bergisch Gladbach. Das war richtige Pionierarbeit. In Siegen ging es mir richtig gut. Dort musste ich nur noch 30 Stunden in der  Woche arbeiten, mein Trainer und Chef hat mich total unterstützt. Meine Arbeit bestand darin, im Lager zwei Autos mit Pflanzen zu laden  und diese dann an die Blumengeschäfte in der Region zu verkaufen. Daneben konnte ich  mich auf Fußball konzentrieren.

Der TSV Siegen versammelte zeitweise ein Dutzend Nationalspielerinnern und stieg mit Ihnen als zentrale Figur zum „FC Bayern des Frauenfußballs“ auf. Das Männerteam der Sportfreunde bestritt das Vorprogramm Ihrer Bundesliga-Partien. Gab es neben all den Erfolgen auch Momente, in denen Sie Neid  zu spüren bekamen?

Neid: Es gab schon ein kleines Duell mit den Sportfreunde-Männern. Wir kamen über die Region hinaus, unsere Vorstandsmitglieder saßen beim Pokalfinale neben dem Bundespräsidenten oder dem Bürgermeister von Berlin, während die Sportfreunde in der Verbandsliga spielten. Aber das hat uns nicht weiter berührt.

Und in der Liga? Die Konkurrenz war doch bestimmt besonders heiß, Siegen ein Bein zu stellen.

Neid: Klar. Es war so wie heute beim FC Bayern oder den Frauen des VfL Wolfsburg: Die Gegner haben mit 110 Prozent gespielt. Wir hatten es mit sehr kompakten Abwehrreihen und intensiv geführten Zweikämpfen zu tun.

„Die legendären Pokalfeiern am Wannsee sind Siegerländer Sportgeschichte“, schrieb die „WAZ“ 2011. Erzählen Sie!

Neid: (lacht) Wir haben in Berlin nie in einem Sterne-Hotel gewohnt, sondern waren immer am Kleinen Wannsee. Das war ein Haus mit Vier- oder Sechsbettzimmern, ähnlich einer Jugendherberge. Aber mit einem total schönen Blick, einer tollen Terrasse und einem Garten. Da konnten wir uns zum einen optimal auf das Finale vorbereiten, zum anderen hinterher auch feiern. Wir haben meistens gegrillt mit einer Kiste Bier. Das war wirklich sehr, sehr schön. Nach dem ersten gewonnenen Finale gab es auch eine Kutschfahrt durch Siegen (lacht). Da erinnere ich mich gerne dran.

Einem großen Publikum wurden Sie durch die Nationalmannschaft bekannt. Die Frage nach dem legendären Kaffeeservice, Produktlinie „Mariposa“ von Villeroy & Boch, kann ich Ihnen nicht ersparen. Was ist aus dem  41-teiligen Set geworden, das Sie vom DFB für den EM-Triumph 1989 bekamen?

Neid: Für uns war das eine nette Geste, uns wurde Respekt gezollt für diesen tollen Erfolg. Das Service war auch nicht günstig. Natürlich ist das heute unvorstellbar, aber es liegt auch schon eine ganze Zeit zurück. Ich fand es damals nicht so schlimm, wie man es im Nachhinein sieht. Die Männer haben für ihren ersten Titel auch kein Geld bekommen, sondern ein Sachgeschenk. Ich habe mal von einer Waschmaschine gehört. Auch nicht schlecht für die damalige Zeit (lacht). Später gab es auch ordentliche Prämien für unsere Titel. Das Kaffeeservice gibt es immer noch. Das steht bei meinen Eltern in Walldürn und wird hier und da  genutzt.

Durchbruch bei der EM 1989

Das Halbfinale der EM 1989 gegen Italien in Siegen war das erste Frauenfußball-Spiel, das live im Fernsehen übertragen wurde. War das der Durchbruch?

Neid: Das kann man so sagen. Vor allem auch, weil das Spiel so verlief, wie es verlief, mit all den Emotionen und dem Sieg im Elfmeterschießen. Unsere Torfrau Marion Isbert hat drei Elfmeter gehalten und einen selber geschossen. Danach die Bilder, wo sie ihren Sohn auf dem Arm hat, mit Tränen in den Augen. Beim Finale platzte das Stadion in Osnabrück aus allen Nähten, und wir gewannen gegen den haushohen Favoriten Norwegen 4:1.

Sie als Spielmacherin dieser Mannschaft wurden ein deutscher Sportstar. Stimmt es, dass Sie 1995 ein Angebot des Playboy über eine fünfstellige Summe für Nacktfotos ausschlugen?

Neid: Das stimmt. Ich wurde oft vorgeschickt, wenn – damals noch übersichtlich – Pressearbeit zu verrichten war. Dadurch stand ich ein bisschen mehr im Vordergrund. Über das Angebot des Playboy habe ich mich trotzdem gewundert. Mir war klar, dass es für unseren Sport kein gutes Aushängeschild gewesen wäre, mich nackt ablichten zu lassen. Ich wollte durch  Leistung glänzen, nicht durch meine zur Schau gestellte Weiblichkeit. Das sehe ich heute genauso.

Nach Ihrer aktiven Karriere, die Sie nach Olympia 1996 beendeten, wurden Sie Trainerin beim DFB. Nach Jahren als Cheftrainerin der U-Nationalmannschaften und als Assistentin von Bundestrainerin Tina Theune führten Sie als Chefin das Nationalteam 2007 ohne Gegentor zum WM-Titel. Ihr größter Triumph?

Neid: Jedes Turnier, das man gewinnt, ist in dem Moment das schönste. Aber der Titel  2007 war wirklich etwas Besonderes. Wir waren amtierende Weltmeister, und ich sollte als junge Bundestrainerin den Titel verteidigen. Das so spektakulär ohne Gegentor zu schaffen, war der Wahnsinn. Aber auch die EM 2009, wo wir den Titel von 2005 verteidigt haben, werde ich nie vergessen. Und ich nenne natürlich den Olympiasieg 2016 im Maracana-Stadion von Rio, weil es ein goldener Abschluss für mich war.

Neid: "Waren 2011 alle überfordert"

Würden Sie umgekehrt das Viertelfinal-Aus bei der Heim-WM 2011 als größte Enttäuschung Ihrer Karriere bezeichnen?

Neid: Es gab so viele externe Anfragen, dass die plötzlich im Vordergrund standen und nicht mehr unser Spiel. Wir waren von so vielen Dingen abgelenkt. In unserem Hotel konnte jeder  rein und raus. Unser Stockwerk war die einzige Möglichkeit, uns zurückzuziehen. 2007 standen die Türen alle offen, jeder hat  jeden auf dem Zimmer besucht. 2011 waren die Türen zu. Das war das größte Problem. Wir waren alle überfordert vom öffentlichen Interesse, das wir ja immer wollten. Die Geister, die wir riefen, konnten wir nicht händeln. Bei der nächsten  Heim-WM (der DFB bewirbt sich gemeinsam mit den Niederlanden und Belgien um die Frauen-WM 2027, d. Red.) habe ich gute Tipps, wie wir das besser machen können.

Gegen Ende Ihrer Tätigkeit als Bundestrainerin gab es Kritik an Ihrem Führungsstil: zu wenig selbstkritisch, zu hart zum Team, zu dünnhäutig gegenüber Journalisten. Unfair oder berechtigt?

Neid: Darum geht’s ja nicht. Mein Führungsstil hat sich  im Lauf der Jahre sicher verändert. Was mir aber immer wichtig war, ist Disziplin. Ich bin der Meinung, dass gewisse Regeln eingehalten werden müssen, um erfolgreich zu sein. Natürlich kann man es nicht allen Spielerinnen recht machen. Aber als Trainerin muss man seinen Weg finden. Und wenn ich keine gute Kommunikation gehabt hätte, hätten wir nie etwas  gewonnen. Wenn man als Titelverteidiger in ein Turnier startet, alles hinterfragt wird und man trotzdem den Titel gewinnt: Sicher war ich da manchmal dünnhäutig. Hier und da hätte ich etwas lockerer sein können, aber nach elf Jahren als Cheftrainerin habe ich mir auch erlaubt, manchen Journalisten meine Meinung zu sagen.

Zuletzt gehörte das DFB-Team nicht mehr zur absoluten Weltspitze, auch die Qualifikation für die Olympischen Spiele in Tokio wurde verpasst. War der Frauenfußball in Deutschland schon mal weiter oder haben die anderen Nationen auf- beziehungsweise überholt?

Neid: Bei der EM 2017 hatten wir fast dieselbe Mannschaft wie 2016, waren also  nicht schlechter als die anderen. Auch 2019 hatten wir individuell starke Spielerinnen, haben es aber aus verschiedenen Gründen nicht geschafft, gegen Schweden zu gewinnen. Ich sehe im Moment bei keiner anderen Nation so viele gut ausgebildete Spielerinnen wie bei uns. Bei einem Turnier muss aber alles perfekt passen.

Sie haben mal gesagt, dass Sie es sich zutrauen würden, ein Bundesliga-Team der Männer zu trainieren. Wann sehen wir Sie dort? Bibiana Steinhaus hat es als Schiedsrichterin ja auch geschafft.

Neid: Es gab Angebote, als Trainerin in England, Australien oder Norwegen zu arbeiten. Auch aus Deutschland gab es Vereine. Aber im Moment habe ich keine Ambitionen, weil mir meine Aufgabe viel Spaß macht. Ich stehe nicht mehr so im Vordergrund, dadurch habe ich eine andere Lebensqualität. Wenn ich an meinem Wohnort Wilnsdorf einkaufen gehe, interessiert das keinen mehr. Das ist auch ganz schön.

Die Fragen stellte Alexander Petri.

 

Zur Person

Name: Silvia Neid.

Geburtstag: 2. Mai 1964 in Walldürn (Baden-Württemberg).

Beruf: gelernte Fleischerei-Fachverkäuferin und Fußball-Lehrerin.

Spitznamen: „Königin  Silvia“, „Fußball-Kaiserin“.

Größte Erfolge als Spielerin: Sieben Meisterschaften, sechs DFB-Pokalsiege, EM- Titel 1989, 1991, 1995.

Größte Erfolge als Bundestrainerin: Weltmeister 2007, Olympia-Gold 2016.

Gut zu wissen: Der Spielwarenhersteller Mattel produzierte 2011 eine Silvia-Neid-Barbie.

Was sie sagt: „Wenn Trainer von Spielern geliebt werden wollen, ist es schon vorbei.“

Was man so hört: „Silvia ist die Beste für den Job als Bundestrainerin – das  war so und das bleibt so.“ (Ex-Bundestrainer Gero Bisanz nach dem Aus bei der WM  2011 in der „taz“).

Alexander Petri