München
Dirigierender Politiker

Bei den Münchner Philharmonikern startet die Amtszeit von Waleri Gergijew

24.09.2015 | Stand 02.12.2020, 20:46 Uhr

München (DK) Noch vor einem Jahr war die Aufregung groß um die Äußerungen von Waleri Gergijew. Kontrovers wurde über seine prorussische Haltung in der Ukraine-Krise diskutiert. Zuvor hatte Gergijew 2013 mit relativierenden, missverständlichen Äußerungen zur homophoben Politik seines Freundes Wladimir Putin gehörig irritiert – auch in München (wir berichteten). In den Interviews vor Gergijews jetzigen Antrittskonzerten als neuer Chefdirigent bei den Münchner Philharmonikern wurden diese Themen allenfalls angerissen.

Stattdessen treibt Gergijew nun die Flüchtlingskrise um. Der Westen sollte zwar „sicherlich großzügig“ sein bei der Aufnahme von Flüchtlingen, aber auch „sehr vorsichtig handeln, um ihre besten Traditionen und ihre Stabilität zu bewahren“, sagt er. Das birgt erneut reichlich Diskussionsbedarf und noch mehr Sprengstoff. Gergijew bleibt vorerst ein dirigierender Politiker.

Für die Münchner Philharmoniker ist das höchst problematisch, denn: Nach der hitzigen Trennung von Christian Thielemann, dem Tod von Lorin Maazel und den skurrilen Äußerungen Gergijews muss es jetzt darum gehen, beharrlich am künstlerischen Profil des Orchesters zu feilen. Ob Gergijew dafür der richtige Chefdirigent ist? Nach den ersten zwei von insgesamt drei Antrittskonzerten in München bleiben offene Fragen.

Das offenbarte sich schon in der „Auferstehungs-Sinfonie“ Nr. 2 von Gustav Mahler, obwohl viele Details überraschend klar und transparent ausgestaltet wurden – vor allem die dynamischen Steigerungen. Auch die wunderbar warmen, sonoren Streichern, und die Bläser waren passgenau aufeinander abgestimmt. Nichts wirkte überspannt oder hysterisch – kein kopflos tönender Bombast, wie man befürchten konnte. Trotzdem stellte sich kein Aha-Erlebnis ein. Derzeit ist München im Mahler-Repertoire ziemlich verwöhnt – mit Mariss Jansons beim Bayerischen Rundfunk und Kirill Petrenko an der Bayerischen Staatsoper. Unvergessen bleibt die Aufführung der „Auferstehungs-Sinfonie“ unter Jansons im Sommer 2013. Das „Urlicht“ sang damals Gerhild Romberger, die im vorigen Jahr auch unter Kent Nagano in Mahlers Zweiter in Ingolstadt beim „Vorsprung“-Festival der Audi-Sommerkonzerte brillierte.

An Rombergers wahrhaftiger, luzider Ausgestaltung des „Urlichts“ kam in München unter Gergijew die Mezzosopranistin Olga Borodina ganz und gar nicht heran. Mit hochdramatischem, vibratoreichem Pathos nahm die Sängerin von Gergijews Mariinsky-Theater in St. Petersburg dem „Urlicht“ jeden Zauber. Differenzierter präsentierte sich die Sopranistin Anne Schwanewilms.

Sonst aber hatte Gergijew große Mühe, der klanglichen und geistigen Vielschichtigkeit der Zweiten von Mahler gerecht zu werden. Manches blieb arg diffus, vor allem im Finalsatz. Wo das Fernorchester hinter der Bühne mit dem Ensemble auf dem Podium klanglich aufeinanderprallt, um den Konflikt zwischen Diesseitigkeit und Jenseitigkeit zu verlebendigen, mangelte es an Durchhörbarkeit.

Nicht zuletzt war die akustische Balance zwischen diesen Ebenen nicht optimal. Und wo collagenhaft semantische Brüche klaffen, vermittelte Gergijew mit Verzögerungen im Zeitmaß (Rubati). Die jähen, abrupten Stimmungswechsel wurden geglättet. Wie sehr Gergijew eindimensional denkt, offenbarte sich auch in der Sinfonie Nr. 4 von Anton Bruckner. Es war das Hauptwerk des zweiten Antrittskonzerts von Gergijew in München.

Auch hier glänzte der Eröffnungssatz mit einem warmen, dynamisch fein ausbalancierten Klang. In den Mittelsätzen aber konnte Gergijew mit der semantischen Vielschichtigkeit erneut wenig anfangen. Hier gäbe es viel zu erzählen. Im „Andante, quasi Allegretto“ verwandelt sich der trauermarschhafte Gestus in eine gelöste Polka, was Mahler im langsamen Satz der Sinfonie Nr. 1 aufgreifen wird – grotesk zugespitzt.

Es gilt abzuwarten, ob Gergijew in München die überragenden Potenziale der Münchner Philharmoniker umfassend nutzen wird. Sein aktueller Vertrag läuft 2020 aus. Bis dahin muss Gergijew mehr bieten als nur einzelne, gelungene Details.